1/96 (Nr.57) 17.Jg. 8.-DM E9860F
Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit
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•' •••■.JPPI:
Inhalt Nr. 57
»Haste mal ne Mark?« Aktuelle Themen
Infolade. n Leipzig/SF-Redaktion: »Das Typische am
II. Teil der »deutschen Chronik«.
Die taz druckt weiße Seiten, die
Junge Welt ist beinahe pleite, Michael Wilk: Macht und Herrschaft Teil II.
die izdvv startet eine letzte ABO-
kantpagne. der ak sammelt wie- •*"»
der50.000.-DM Spendengelder, der Fntzlarer Strato m Frankfurt..
die ila kann ohne neue ABOs Autonome!Berlin: Das Comeback der Atomindustrie
nicht überleben, die Beute erhöht
von 12.- DM auf 16.-DM - und
Wii: erhöhen "nur" von 7.-DM
auf 8.-DM! Pas ABO kostet ab
dem 1.4.96: 35.-DM. Wer sein/ MITTELAMERIKA
ihr ABO jetzt verlängern will, Interview mit Mitgli
kann dies für 30.-DM tun! Komitees (C
Die SF-Redaktion .
AFRIKA
Ilija Trojanow: Wurzeln und Visionen.
Begegnungen mit den Ältesten Simbabwes
in den Vereinigten
Staaten der 80er und 90er Jahre.
Kultur:
Interview mit Dimitri Roussopoulos: »Prinzip 1: Du mußt die
Selbstausbeutung akzeptieren« - 25 Jahre Black Rose
Verlag, Montreal von Wolfgang Uaug und Andi Ries .
Rezensionen
Peter Nowak: Group 43 - Jüdischer Widerstand ..
Peter Nowak: Christiania - Alternativer Stadtteil
Herby Sachs: Kurdistan - Fotoband von R. Maro
Ilerby Sachs: 4 Hände von Paco Taibo II.. .
Geschichte
Dieter Nelles: Die anarchistische Jugend in Wuppertal 1929-1945..S. 61
Ilse Schwipper: »Freiheit pur«. Eine Kritik an Horst Stowasscrs
Einschätzung der "Bewegung 2. Juni" .
Bücher, SF-Zeilschriftenpakete... W- ..
Rücktitel: Der Verfassungsschutz wünscht (kjeine Adressenänderung.
trflÜl
s,:ms.
Redaktions- und Anzeigenschluß: SF-58 (2/96): 15.3.96
''■'.f-'lfyy.
Foto: Christian Carez
I
Das Typische
am Fall von
Lübeck
*
II. Teil der
“deutschen”
Chronik
(LTeilin SF 5/95)
Die folgende Chronik wurde wieder
vom Infoladen Leipzig erstellt. Wir
führen die Chronikauszugsweise* fort,
sie ist dazu gedacht, in unseren all¬
täglichen Auseinandersetzungen als
Diskussions- und Argumentationshilfe
genutzt zu werden, sie spiegelt die " bun¬
desdeutsche Realität " wider und zeigt
die enge Denkweise weiter Teile dieser
Gesellschaft auf Immer wieder stehen
Politikeraussagen und Polizeiverhalten
in einem rassistischen Kontext. Immer
wieder geht ein Aufatmen durch die
Republik, wenn ein Vorfall sich nicht
als Anschlag sondern als Unfall ent¬
puppt oder - noch besser - sich einem
Ausländer in die Schuhe schieben läßt.
Im VerdrängensinddieDeutschen Welt¬
meister.
Die Toten von Lübeck
Seit Mitte Januar beschäftigt uns die
neuste und traurigste Variante dieses
Schauspiels. Zum Zeitpunkt des Redak¬
tionsschlusses dieser SF-Ausgabe wur¬
de eine "Nachrichtensperre zum Lü¬
becker Brand” verhängt.
Weil die Recherchen von Journalist¬
innen der offiziellen Polizei version, daß
ein Libanese den Brand gelegt habe,
völlig widersprachen, dürfen die Me¬
dien dieses Mal nicht mehr berichten,
sprich, wenn es nicht geschrieben und
gesendet werden darf, dann lohnt sich
auch die Mühe nicht mehr, vor Ort zu
gehen und Betroffene zu befragen.
Warum ausgerechnet ein mitbetrof¬
fener Libanese als Tatverdächti ger prä¬
sentiertwird, wird aus der vorliegenden
Chronik nachvollziehbar. Immer häu¬
figer wirddie "Schuld" beidenFlücht-
lingen und Immigrantinnen selbst ge¬
sucht, die Verantwortung der Behörden
heruntergespielt oder vertuscht.
Im Lübecker Fall ist die Täterkon¬
struktion sogar äußerst dürftig, im
Haftbefehlt steht, der Libanese Safwan
soll aus "enttäuschterLiebe" denBrand
im eigenen Haus gelegt haben oder
aber "ausRache” aufgrund eines Streits
zwischen Libanesen und Afrikanern.
Was wir erfahren haben und jetzt
nicht weiter erfahren sollen: Der ver¬
meintliche Täter bestreitet nicht nur die
Tat, er wohnte auch in dem Heim, die
Schlafplätze seiner ganzen Familie
befanden sich direkt am Ausbruchsort
des Brandes und er selbst beteiligte
sich nach Zeugenaussagen von Be¬
troffenen in der höheren Etage an der
Rettung von Kindern. Das dies gelang
kommentierten Mitbewohnerinnen mit
"Er hat es getan”. Wie sie den Fernseh¬
vertretern versicherten, meinten sie
damit, er habe die Kinder herausgeholt.
Die Feuenvehrzeugen gaben dies als
"Täterbezichtigung" zu Protokoll. Im¬
merhin läßt sich daraus die Frage
ableiten, ob die gesamte Täterkonstruk-
tion auf einem Interpretationsfehler
vorschnell urteilender (weil überheb¬
licher und oft nicht wirklich zuhören¬
der?) Deutscher beruht?
Die enttäuschte Liebe" geisterte erst
unmittelbar vor der Nachrichtensperre
durch die Medien, eine Aufklärung
darüber dürfte ausbleiben. Sie wird so¬
mit als Tatmotiv in den Köpfen hängen
bleiben. Aber der angebliche Streit
zwischen Libanesen und Afrikanern
wurde von der Afrikanischen Gemein¬
schaft der Hansestadt ins Reich der
Märchen verwiesen: »Die Atmosphäre
war kollegial und freundlich«. Die
Afrikaner glauben nicht, daß Safwan
der Täter ist, sie sehen ihn weiterhin als
"Nachbarn".
ff
Chronik II
(1. November 1995 -
21.Dezember 1995)
Ab dem 1.11.95 bis zum Februar 1996
sollen die personenbezogenen Daten
und Fingerabdrücke von 9.000 Asyl¬
bewerberinnen aus der BRD an das
schweizerische Bundesamt für Flücht¬
linge übermittelt werden. Die Daten
dienen angeblich lediglich statistischen
Zwecken, um die Höhe der Mehrfach¬
antragstellungen von Flüchüingen in
zwei verschiedenen Ländern zu ermit¬
teln. Die Daten stammen von Flücht¬
lingen, die in den Monaten August,
September und Okober 1993 in der
BRD einen Asylantrag gestellt haben.
Die Übermittlung der Daten wider¬
spricht der gültigen Rechtslage und ist
somit illegal.
Im Oktober 95 beantragten 12.389
Menschen Asyl. Das sind 2,7% mehr
als im Sept. 95 and 21% mehr als im
Okt. 94. Die meisten Flüchtlinge kamen
aus Serbien & Montenegro (ca. 2.900)
und der Türkei (2.100). Die Anerken¬
nungsquote liegt bei 8,5%.
2.11.95. Ashraf B. aus dem Sudan
begeht auf dem Frankfurter Flughafen
einen Selbstmordversuch, indem er sich
die Pulsader aufschneidet. Vor 2 Wo¬
chen beantragte Ashraf Asyl und durch¬
lief das Flughafenverfahren. Erst das
Bundesamt, dann ein Gericht lehnten
den Antrag ab. Der BGS prüft die Ein¬
weisung in psychiatrische Behandlung
wegen “akuter Suizidgefahr”. !
Vor der Staatsschutzkammer des
Berliner Landgerichts beginnt der erste
Prozeß gegen einen Kurden wegen der
Beteiligung am Hungerstreik von
Kurdinnen im Juli/August 1995. Ihm
wird u.a. vorgeworfen, am 11.8.1995
die Einfahrt des “Deutsch-Kurdischen
Kulturzentrums” in der Zossener' Sir.
mit Steinen und Molotow-Cocktails
gegen anriiekende Polizistlnnen ver¬
teidigt zu haben. j
Die Münchner Ausländerbehörde
versucht über Entzug der Arbeits¬
erlaubnis, Verweigerung der Sozial¬
hilfe, die Verlängerung der Aufent¬
haltsgenehmigung für jeweils nur 2
Wochen und verbalen Druck eine
kroatische-serbischeFlüchtlingsfamilie
zur “freiwilligen” Ausreise nach Kroa¬
tien zu zwingen. Obwohl sich das
UNHCR gegen eine Rückführung von
minderjährigen Kindern, von Serbinnen
nach Kroatien oder von irgendwelchen
Flüchtlingen in besetzte Gebiete aus¬
spricht, halten die Behörden an ihrem
harten Kurs gegen die Familie Vulctic
[4] SF 1/96
fest, die (mit ihrem Kind und ihrer total
zerstörten Herkunftsstadt in serbisch
besetzten Gebiet von Kroatien) alle 3
Kriterien erfüllt. Die Caritas gibt an,
daß schon mehrmals jugoslawische Fa¬
milien ihrer ‘‘nationalen Herkunft” ent¬
sprechend getrennt in verschiedene
Gebiete abgeschoben wurden.
3.11.95. Das Berliner Verwaltungs¬
gericht hat einem Kurden das Rechtauf
politisches Asyl zugesprochen. In der
Begründung heißt es, Kurdinnen aus
dem südöstlichen Notstandsprovinzen
seien allein schon aufgrund ihrer
Volkszugehörigkeit von staatlicher
Gruppenverfolgungbedroht, auch wenn
sie mit der PKK und den Auseinander¬
setzungen nichts zu tun haben. Eine
innere Fluchtaltemative sei den Kurd¬
innen weder zuzumuten noch existiere
sie, da auch in der Westtürkei keine
Sicherheit vor staatlicher Verfolgung
wegen angeblicher PKK-Zusammen-
arbeit besteht. (AZ 36 X 211.95).
Der Bundesrat legt auf Antrag von
Bayern einen Gesetzentwurf zur Ab-
schiebehaftentlassung bei Asylantrag-
stellung vor und will diesen im Bundes¬
tag einbringen. Der Entwurf sieht vor,
daß nicht nur - wie bisher - Asylfolge¬
antragstellerinnen in Abschiebehaft
bleiben, bis das Bundesamt über die
Zulässigkeit des Folgeantrags ent¬
schieden hat, sondern alle Häftlinge
solange im Knast bleiben, bis ihr Erst¬
oder Folgeantrag rechtsgültig entschie¬
den wurde, und danach entweder frei
kommen (bei der Asylgewährung) bzw.
direkt abgeschoben werden. Bislang galt
das Prinzip, daß nur wer vollziehbar zur
Ausreise verpflichtet ist, auch in Ab¬
schiebehaft genommen werden darf,
d.h. alle Menschen in einem laufenden
Asyl verfahren waren sofort zu entlassen
bzw. konnten gar nicht erst inhaftiert
werden. Mit dieser Regelung will der
Bundesrat dem Stellen von Asylan-
l^gen “aus asylfremden und taktischen
Erwägungen” zuvorkommen. Das wird
Vor allem illegal einreisende und hier
übende Flüchtlinge betreffen, deren
ernte Bekanntschaft mitder Staatsgewalt
die sie verhaftetenden Polizistlnnen
sind.
Öie StaatsanwaltschaftFfM teilt mit,
daß die Ermittlungen gegen die 5 BGS-
eamten auf dem Frankfurter Flug¬
hafen, die für den Tod des Nigerianers
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Kola Bankoie verantwortlich sind, ein¬
gestellt werden. Lediglich gegen den
Arzt wird ein Verfahren wegen unter¬
lassener Hilfeleistung (anstelle von
fahrlässiger Tötung) eingeleitet. Kola
starb am 30.8.94, als der BGS das 4.
Mal seine Abschiebung mit Gewalt
durchsetzen wollte und ihn nach einer
heftigen Auseinandersetzung in der
Lufthansamaschine u.a. fesselte und
knebelte. Ein später euphemistisch ge¬
nannter “Beißschutz” bestand aus ge¬
brauchten Socken und einem Rolladen¬
band und wurde mit aller Kraft von
Spritze ermittelt, sondern nur weil er zu
spät Wiederbelebungsmaßnahmen
einleitete. Die Staatsanwaltschaft zieht
damit ein Schlußstrich unter den Fall,
der vom ersten Tag an geheimgehalten
und vertuscht werden sollte. Die Poli¬
zeigewerkschaft sprach z.B. einen Tag
nach dem Mord von einem “jederzeit
rechtstaatlichem und angemessenem”
Vorgehen, der Name des Opfers blieb
tagelang unter Verschluß, Beweismittel
wurden nie sichergestellt, der Obduk¬
tionsbericht warein Gefälligkeitspapier
und die Landesregierung in Mainz
\
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zwei BGS-Beamten über Mund und
Nase gezerrt, um Kola am Schreien zu
hindern. Der Flughafenarzt verabreichte
eine “Beruhigungsspritze”. Obwohl 2
von 4 Gutachten die Fesselung als die
Haupttodesursache benennen, geht die
Staatsanwaltschaft von “komplexen
Todesursachen” aus, wie z.B. das
angeblich “kranke Herz”, dem die 2
Gutachten noch jahrelange Funktions¬
fähigkeit bescheinigen. Die 2 anderen
Gutachten schieben den Tod auf die
massive psychische und physische
Belastung während der Abschiebung,
der das Herz nicht gewachsen war.
Gegen den Arzt wird nicht wegen der
betonte von Anfang an, daß es “keine
Anhaltspunkte für eine strafrechtliche
Verantwortung” der BGSler gäbe.
Ebenfallseingestelltwirddas Verfahren
um den Tod einer polnischen Frau im
Mai 93 auf dem Frankfurter Flughafen.
Kurz nach dem Tod hieß es, die “ver¬
wirrte Frau” sei ohne Fremd verschulden
erstickt, da sie Teile ihrer Kleidung
gegessen hätte. Im Zuge der Kola-
Ermittlungen wurde auch der Fall der
Frau nochmals bearbeitet, da ihr zer¬
trümmertes Gebiß und Klebestreifen¬
reste im Mund eher auf eine Gewaltan¬
wendung schließen ließen.
(jw 23.10., 25.10., 4.11.95,
FR 4.11.95)
SF 1/96 [5]
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o
Foto: Herby Sachs /Version
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,i
7.11.95. Das Berliner Landgericht
verurteilt Martin M. auf 2 Jahre und 6
Monate Haft ohne Bewährung. Er soll
als “Rädelsführer” bei der Verteidigung
des Kurdischen Zentrums in Berlin auf¬
getreten sein. In dem Zentrum befanden
sich viele Kurdinnen im Hungerstreik,
nachdem die Polizei Ende Juli die
Kurdinnen vom Breitscheidplatz veijagt
hatte, wobei Gülnaz Baghistani starb.
Nach Aussagen von Polizeizeugen soll
Martin versucht haben, ein Plakat mit
dem Symbol der verbotenen ERNK am
Gebäude angebracht zu haben (fünf
Monate Haft!) sowie durch “ent¬
sprechende Gestik und Handzeichnun¬
gen” die Verteidigung des Hauses gegen
die brutale Räumung angeleitet haben
(25 Monate).
war. Damit ist die Landgrenze jetzt
absolut dicht. Die Einreise per Flugzeug
ist durch das Flughafenverfahren extrem
erschwert. Ob und wie die Flüchtlinge
überhaupt in einen unbekannten Dritt¬
staat abgeschoben werden können, ist
unklar. Durch die Verweigerung eines
Asylverfahrens unterliegen sie, sollten
sie in der BRD eine Duldung erhalten,
strengeren finanziellen und ausländer¬
rechtlichen Bestimmungen. (AZ - 9C73/
95) ..
8.11.95. Nach Angaben von FDP-
Politikerlnnen haben sich die Bonner
Koalitionspartein darauf geeinigt, in
außergewöhlichen Härtefällen auslän¬
dischen Ehepartnerinnen-schon nach
einem anstelle von 3 Jahren ein eigen¬
Das Bundesverwaltungsgericht ent¬
scheidet, daß niemand Anrecht auf ein
Asylverfahren in der BRD hat, der/die
über einen sogenannten sicheren Dritt¬
staat einreist, selbst wenn das Land als
solches nicht feststeht. Das betrifft alle
Flüchtlinge, die auf dem Landweg in
die BRD kommen, aber z.B. nicht
wissen (wollen), ob ihr Fluchtweg über
Polen oder die Tschechische Republik
führte. Das BVG revidierte mit dieser
Entscheidung den Beschluß des OVG
Koblenz, einem Kurden ein Asylver¬
fahren zu gewähren, weil das genaue
Durchreiseland nicht mehr zu ermitteln
ständiges Aufenthaltsrecht zu erteilen
Die 4-Jahres-Regel für den Normalfall
soll weiterbestehen. Außerdem sollen
Ausländerinnen mit einem 15-jährigen
rechtmäßigen Aufenthalt in der BRD
auch bei Verlassen dieser für längere
Zeit eine unbefristete Aufenthaltser¬
laubnis nicht verlieren.
In Hannover treten 40 Kurdinnen aus
Protest gegen ihre geplante Abschie¬
bung in einen unbefristeten Hunger¬
streik. Ihre Asylanträge wurden vom
Oberverwaltuhgsgericht Lüneburg
abgelehnt, obwohl sie in der Türkei
gefoltert und ihre Dörfer vollständig
zerstört wurden. Der Niedersächsische
Flüchtlingsrat widerspricht dem OVG
bezüglich der “inneren Fluchtalter¬
native” Westtürkei. So wurden allein in
Izmir und Umgebung in den letzten
zwei Monaten 200 Kurdinnen, fest¬
genommen, zum Teil gefoltert und deren
Häuser zerstört. Amnesty International
betont, daß abgeschobenen Kurdinnen
in der Türkei Verhaftung, Verhöre,
Mißhandlungen und F. .ter drohen.
11.11.95. Etwa 700 Menschen be¬
teiligen sich an einer Demonstration
gegen die Abschiebepolitik der BRD,
welche zum Abschiebeknast Glasmoor
(bei Hamburg) führt. In Glasmoor
können bis zu 84 Abschiebehäftlinge -
jeweils zu sechst in einer Zelle von 27
Quadratmetern - untergebracht werden.
Nach einem Hungerstreik von Flücht¬
lingen im Knast wurden einige abge-
schoben oder umverlegt, obwohl z.B.
in einem Fall das Bundesamt einen
Asylfolgeantrag eines Kurden bear¬
beiten wollte.
Der Hessische Verwaltungsgerichts'
hof in Kassel entscheidet, daß die Dritt-
Staatenregelung nur Anwendung finden
kann, wenn der Drittstaat, über den ein
Flüchtling eingereist ist, auch tatsäch¬
lich feststeht. Dies entspreche der In¬
tention der 1993 im Asylkompromiß
geschaffenen Drittstaatenregelung.
Außerdem wäre die Anwendung der
Drittstaatenregelung bei unbekanntem
Reiseweg, wie ihn das Bundesverfas-
sungsgerichtunddieOVG’s von Bayern
und Baden-Württemberg befürworten,
nicht möglich, da in diesen Fällen nur in
das Herkunftland abgeschoben werden
könne, was aber nicht zulässig sei. Der
hessische VGH stellt sich damit hinter
eine Entscheidung des OVG Koblenz,
(siehe 7.11.95)
Die SPD fordert eine “humane Alt¬
fallregel” Nach der Vorstellung der
SPD sollen Flüchtlinge mit einem min¬
derjährigem Kind nach 5, alle anderen
nach8JahreninderBRDbleibendürfen.
wenn sie ihren Lebensunterhalt selbst
bestreiten können. Die FDP-Bundes-
tagfraktion schließt sich dieser Forde¬
rung an. Der CDU-Vorsitzende in
RheinlandPfalz, JohannesGerster, wirft
Kanther in Bezug auf die Altfallregelung
Unmenschlichkeit vor und erklärt, sich
[ 6 ] SF 1/96
mit der Entscheidung von Kanther nicht
abzufinden. Gerster plädiert für eine
Einzelfallprüfung.
14.11.95. Die Bremer Innenbehörde
verbietet den “Kurdisch-Deutschen
Verein für Völkerfreundschaft- Hevalti
e. V.” und diePolizei durchsucht deshalb
am Morgen die Räume des Vereins in
Bremen und beschlagnahmt verschie¬
dene Materialien. Dem Verein wird die
Unterstützung der PKK vorgeworfen.
Am 24.10. verlor der Verein ein Ver¬
fahren gegen den Innensenator Ralf
Borttscheller, der behauptet hatte, der
Verein wäre ein Treffpunkt und Tam-
organisation der PKK, die “dort hinter
verschlossenen Türen Straftaten, sogar
Kapitalverbrechen” (z.B. “ein versuch¬
ter Mord” gegen einen Abtrünnigen,
Drogenhandel, Schutzgelderpressungen
usw - Interview im Focus) plant. Das
Gericht entschied, daß die Meinung des
Innensenators als “freie Meinungs¬
äußerung” durchgehen könne, denn ein
politischer Verein, wie Hevalti, müsse
auch schärfere Formulierungen hin¬
nehmen können. Der CDU-Senator
kündigte schon damals an, den Verein
bald verbieten zu wollen.
Bei einer bundesweiten Großrazzia
in 45 Wohnungen und Asylbewerber¬
heimen in 3 Bundesländern nimmt die
Polizei 100 Menschen fest, die des
Menschenschmuggels oder der illegalen
Einreise verdächtigt werden. Gegen 6
Personen, “Drahtzieher eines Schleu¬
serings” ergeht Haftbefehl.
Der BGS am Stuttgarter Flughafen
verhindert auf Anweisung des Aus¬
länderamtes Emmendingen die Fami-
lienzu sam men führung eines kurdischen
Ehepaares mit ihren Kindern, die aus
der Türkei kommen. Der Familienvater
Mehmet B., der mit seiner Frau seit 4
Jahren als Asylbewerber in der BRD
lebt, will seine Kinder vom Flughafen
abholen und beantragte dafür von der
Ausländerbehörde eine Erlaubnis zum
Verlassen des Landkreises. Die derart
aufmerksam gewordene Ausländerbe¬
hörde ruft beim Flughafen-BGS an und
teilt ihm mit, daß der BGS die vier 9 bis
13 jährigen Kinder gleich wieder ab¬
schieben soll, weil deren Einreise nicht
erwünscht wäre. Der BGS beruft sich
später darauf, daß die Kinder nicht aus¬
drücklich um Asyl gebeten hatten. Der
Rechtsanwalt will jetzt die zuständigen
Behörden auf Schadensersatz verkla¬
gen.
15.11.95. Die UNHCR-Vertreterin in
der BRD, Judith Kumin, kritisiert bei
der Vorstellung des Flüchtlingsberichts
des UNHCR in Bonn die BRD, die ihre
Beiträge an das UNHCR in den letzten
Jahren trotz steigender Flüchtlings¬
zahlen (50 Millionen) reduziert hat
(1994: 17 Mio US$, 1995: 15,8 Mio
US$ - pro Flüchtling 32 Pfennige).
Außerdem bemängelt sie die Drittstaa¬
tenregelung, Rücknahme Verträge, Ket¬
tenabschiebungen, die unzureichende
Menschenrechtspolitik und die juri¬
stische Herausnahme von ganzen
“Gruppen schutzbedürftiger Flücht¬
linge” aus dem Asylverfahren.
Mehrere hundert Kurdinnen besetzen
in Bremen das Vereinshaus des am
Vortage verbotenen Vereines Helvati,
um damit gegen das Verbot und die
Schließung des Hauses zu protestieren.
Ein von der Polizei gestelltes Ultimatum
verstreicht ohne die angedrohte Räu¬
mung. Nach stundenlangen Verhand¬
lungen mit Abgeordneten von CDU,
SPD, Grünen und AfB verkündet die
Ausländerbeauftragte Bremens, daß die
Sozialen und kulturellen Aktivitäten im
Haus fortgeführt werden können. Weil
sich die evangelischen Kirchen kritisch
überdas Vereinsverbot geäußert hatten,
bezichtigt der Innensenator, Ralf Bortt¬
scheller, die Bremer Kirchen der Sym¬
pathie und Zusammenarbeit mit der
PKK.
18.11.95. Alle der 335 Teilnehmer¬
innen der am Vortage vom OVG Mün¬
ster verbotenen Demonstration “Für
eine politische Lösung in Kurdistan”
werden in Köln eingekesselt und fest¬
genommen. Die meisten Menschen er¬
reichen den Versammlungsort erst gar
nicht. So werden alle Zufahrtsstraßen
abgeriegelt und kontrolliert, Aufent¬
haltsverbote ausgesprochen, in meh¬
reren Städten schon die Abfahrt der
Busse verhindert und Menschen an den
Bahnhöfen zurückgewiesen. Die Ver¬
anstalterinnen berichten im Nachhinein
von brutalen Mißhandlungen durch
Polizistlnnen. Demonstrantlnnen
werden Treppen hinuntergestoßen,
geschlagen und gewürgt.
20.11.95. 40 Abschiebehäftlinge im
Knast Kruppstraße (Berlin) beginnen
einen unbefristeten Hungerstreik. Sie
protestieren damit gegen die schlechten
Haftbedingungen, die langen Haftzei¬
ten, das schlechte Essen, die unzurei¬
chende medizinische Versorgung, die
Behandlung durch das Personal, die
oberflächliche Prüfung der Anträge auf
SF 1/96 [7]
Foto: Herby Sachs /Version
Foto: Herby Sachs/Version
Haftverschonung und die geplante
Umverlegung in den neuen Knast in
Grünau. Ein 18jähriger palästinen¬
sischer Häftling, der einen Selbstmord¬
versuch begeht, wird in eine Einzelzelle
verlegt. 2 Tage später befinden sich
noch 13 Häftlinge im Hungerstreik. Der
ausländerpolitische Sprecher von
Bündnis 90/Grüne, Ismail Kosan, ver¬
sucht am 21.11. die Häftlinge zar Auf¬
gabe zu bewegen, da ein Hungerstreik
keil} geeignetes Mittel sei, um die
Mißstände im Knast abzuschaffen.
Der bayerische Verwaltungsge¬
richtshof weist die Klagen von 4 kur¬
dischen Vereinen zurück und bestätigt
damit die Verbotsverfügungen des In-
nenminsters Beckstein, die mit Unter¬
stützung der PKK als Hauptziel der
Vereine begründet wurden.
21.11.95. Das Bundesverfassungs-,
gericht (BVG) beginnt die Verhandlung
über das seit dem l.Juli 1993 geänderte
Asylrecht. Von den mehr als 1.500 ein¬
gegangen Klagen wählte das B VG fünf
von abgelehnten Asylbewerberinnen
aus, an deren Beispiel exemplarisch
über das Flughafenverfahren, die
“sichere Drittstaaten”- und “verfol-
gungsfreieHerkunftsländer”-Regelung
verhandelt werden soll. An der Ver¬
handlung nehmen teil: der Bundesin¬
nenminister Manfred Kanther, das
Bundesamt für die Anerkennung aus¬
ländischer Flüchtlinge, der BGS, das
UNHCR, amnesty international, Ver¬
treterinnen karitativer kirchlicher
Organisationen. Der frühere Vizeprä¬
sident des BVG, Emst Gottfried Mah-
renholz, beklagt den wachsenden Druck,
den Politikerinnen auf das BVG aus¬
üben. Auf dem CDU-Parteitag hatte
der Innenminister Kanther das BVG
ausdrücklich davor gewarnt, am Asyl¬
recht zu rütteln. Zwei Wochen vor der
Beginn der Verhandlung betonte Kan¬
ther, zwar keinen Druck ausüben zu
wollen, aber die “innere Stabilität
Deutschlands” sei gefährdet, wenn auch
nur ein Element des “Asylkompromis¬
ses” von 1993 wegfallen würde. In die
selbe Kerbe haut der Vorsitzende des
Rechtsausschusses des Bundestages,
HorstEylemann (CDU), der vorschlägt,
das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen
und durch eine “institutionelle Garantie”
zu ersetzen, da mit der Streichung von
Teilen des Asylgesetzes der ganze
“Kompromiß” gescheitert sei: Wer das
“Asylpaket öffne, öffne ein Ventil, das
zu ähnlich hohen Flüchtlingszahlen
führt wie vor der Neuregelung.” Meh¬
rere Oppositionspolitikerinnen im
Bundestag zeigen sich empört über die
Einflußnahme der CDU auf das BVG.
In seiner Rede am ersten Verhand¬
lungstag verteidigt Kanther erneut das
neue Asylrecht, welches durch seine
Beschränkungen erst den Schutz der
wirklich Verfolgten ermögliche. Der
Gutachter des BVG Walter Kälin stellt
fest, daß eine Abschiebung in einen als
sicher definierten Drittstaat ohne
vorhergehende Einzelfallprüfung gegen
das Völkerrecht verstößt. Am zweiten
Verhandlungstag, dem 22.11., stehen
Kettenabschiebungen im Vordergrund,
ai und das UNHCR beschreiben mehrere
Fälle von Kettenabschiebungen und
widersprechen damit Kanther. Am
dritten Tag, dem 23.11., geht es haupt¬
sächlich um die Flughafenregelung.
Eine Vertreterin des Bundesamtes gibt
zu, daß die Flüchtlinge nicht auf ihre
Rechte und den Ablauf des verkürzten
Asylverfahrens auf dem Flughafen
hingewiesen werden. Ein Mitarbeiter
des Flughafensozialdienstes erklärt, daß
die Flüchtlinge bis zu einem halben
Jahr in dem Flughafenknast gefangen
gehalten werden. Am 5. Dezember soll
die Verhandlung forgesetzt, im Frühjahr
1996 ein Urteil gefällt werden. !
23.11.95. Die Innenminster der
europäischen Union einigten sich im
Zuge der Angleichung der Asylpolitik
auf eine gemeinsame Definition des
politischen Flüchtlings. Bürgerkrieg
oder gewaltsame Konflikte, zu er¬
wartende Bestrafungen als Kriegs¬
dienstverweigerer oder Deserteur und
Verfolgung durch nichtstaatliche
Organisationen sind keine ausreichen¬
den Gründe, um aus politischen Grün¬
den Asyl zu erhalten. Außerdem be¬
schlossen die Minister, enger bei den
V isa-Erteil ungen zusammenzuarbeiten
und für einige Herkunftsländer (u.a. Sri
Lanka, Pakistan, Afghanistan, Bangla¬
desh, Ghana) Flughafentransitvisa
zwingend vorzuschreiben.
Bei der Vorstellung des Berichts zur
Lage der Ausländer ruft die Ausländer-
beauftragte der Bundesregierung, Cor¬
nelia Schmalz-Jacobsen, zu einer Aus¬
bildungsinitiative für ausländische
J ugendliche auf. Die Arbeitslosenqoute
für Ausländerinnen lag 1994bei 16,2
7% mehr als die durchschnittliche Ar¬
beitslosenquote.
24.11.95. Der bayerische Innenmini¬
ster Günter Beckstein (CSU) spricht
sich für die Ausweisung und Abschie¬
bung der400.000 in der BRD lebenden
bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen
aus. “Zuerstmflssen diejenigen zurück¬
kehren, deren Häuser und Wohnungen
noch stehen” - so Beckstein, der die
Ausarbeitung eines Stufenplanes für die
Rückführungen vorschlägt. Beckstein
bezeichnet seine Bemühungen als “ein
Stück praktischer Aufbauhilfe”.;
Der Bayerische Verwaltungsge¬
richtshof entscheidet, daß das Verwal¬
tungsgericht Ansbach noch mal über
den Asylantrag des syrisch-orthodoxen
Christen, Semon Oguz, aus der Türkei
verhandeln muß. Da der Asylantrag,
Folgeantrag und mehrere Klagen abge¬
lehnt und Abschiebehaft angeordnet
wurde, begab sich Oguz im Juli 95 ins
Kirchenasyl in Augsburg.
26.11.95. Nach 19 Tagen setzen die
kurdischen Familien Basak und Nayir
ihren Hungerstreik aus, da es “münd-
[8] SF 1/96
liehe Zusicherungen aus dem politi¬
schen Raum” gab, ihr Verfahren erneut
und positiv zu behandeln. Außerdem
kündigten mehrere Kirchen in Hannover
an > den Familien im Notfall Kirchenasyl
zu gewähren, (siehe 8.11.95)
Am zweiten Jahrestag des Verbots
der kurdischen Arbeiterpartei PKK in
der BRD demonstrieren in verschie¬
denen deutschen Städten tausende
Kurdinnen. Die Polizei ging massiv
dagegen vor und verhaftete hunderte
von Teilnehmerinnen. So wird in Essen
e >ne Sitzblockade aufgelöst (150 Fest¬
nahmen und5 verletzteBullen aufgrund
der heftigen Gegenwehr), 2.500 Kurd¬
innen demonstrieren in Saarbrücken und
in Ulm kommt es zu 78 Verhaftungen.
We meisten Veranstaltungen wurden
schon im Vorfeld verboten.
27.11.95. Gegen einen Berliner Poli¬
zisten wird wegen Mißhandlung eines
Libanesen ein Ermittlungsverfahren
eingeleitet. Mitte November 95 hat der
Beamte den Rollstuhlfahrer auf der
S traße grundlos angehalten, geschlagen
und verletzt. Anschließend versuchte
der Beamte, den Libanesen die Anzeige
gegen ihn zurücknehmen zu lassen.
28.11.95. In Erfurt demonstrieren 200
Vietnamesinnen gegen die drohende
Abschiebung von 2.000 Vietnames¬
innen aus Thüringen. Der Innenminister
von Thüringen kündigt eine Initiative
an, nach der die Bleiberechtsregelung
in Thüringen verbessert werden soll.
So soll die in der DDR verbrachte Zeit
bei der Erteilung einer Aufenthaltser¬
laubnis angerechnet werden.
30.11.95. Ein Dolmetscherbüro, 14
Privatwohnungen und die Räume des
Kurdischen Eltemvereins werden in
München von der Polizei durchsucht,
der Verein verboten und das Vermögen
beschlagnahmt. Vorgeworfen wird dem
Verein die Sympathei mitderPKK, die
“Durchführung entsprechender Veran¬
staltungen” über die Situation in Kur¬
distan und der Besuch der Veranstal¬
tungen durch PKK-Aktivistinnen. Am
2.12. besetzen 39 Kurdinnen die Räume
des Vereins und fordern die Wieder¬
zulassung. 200 Polizeibeamtinnen
riegeln die Umgebung weiträumig ab
und Spezialeinheiten stehen zur Stür-
mung bereit. Vermittlungsversuche von
Anwältlnnen unterbindet die Polizei.
In der Nacht zum 3.12. endet die Be¬
setzung “friedlich ” mit der Zusage des
Oberbürgermeisters, Christian Ude
(SPD), einen neuen Verein gründen zu
dürfen, wenn dieser sich nur kulturell
und nicht politisch betätigt. Die Be¬
setzerinnen werden von der Polizei
abgeführt und verhaftet. Ihnen wird
versuchte schwere Brandstiftung,
Hausfriedensbruch, Vergehen gegen
das Waffen- und Vereinsgesetz, Sie¬
gelbruch und Nötigung vorgeworfen.
Am 4.12. erläßt das Langericht gegen
23 Kurdinnen Haftbefehl. Der Ober¬
staatsanwalt teilt mit, daß ihnen Haft¬
strafen bis zu 5 Jahren drohen. Die CSU
fordert die sofortige Abschiebung der
“Extremisten”.
In Bonn wird auf Anordnung des
Bundesinnenministeriums die Infor¬
mationsstelle Kurdistan durchsucht und
Computer, Geld, Fax sowie sämtliche
Aktenordner beschlagnahmt. Begründet
wird dies mit der Behauptung, die Info¬
stelle sei eine Nachfolgeorganisation
des 1993 verbotenen Kurdistan-Komi¬
tees Köln.
Der Nigerianer Saliv Mvunvru Gbo-
lahan sitzt erneut im Abschiebeknast.
Sein einziges Verbrechen: er wollte
freiwillig aus der BRD ausreisen, nach¬
dem er zwei Jahre als abgelehnter Asyl¬
bewerber in der BRD gelebt hatte. Doch
der B GS nahm ihn am 1.11.95 auf dem
Frankfurter Flughafen fest, weil er
falsche Paßpapiere hatte. Am 16.11.95
wurdeer aufgrund des Abschiebestopps
für Nigeria aus der Haft in Offenbach
entlassen. Die Ausländerbehörde in
Hildesheim beantragte jedoch sofort
wieder Abschiebehaft, da zurZeit keine
Abschiebungen nach Nigeria stattfinden
können, aber er trotzdem ausreise¬
pflichtig wäre. Seitdem wartet er, wie
auch andere Flüchtlinge aus Nigeria,
im Knast in Wölfenbüttel auf seine
Abschiebung. Da er seine deutsche
Freundin heiraten will und sich in
Nigeria nur die erforderlichen Papiere
besorgen wollte, zerschlägt die In¬
haftierung alle seine Pläne: nach einer
Abschiebung unterliegt er einem mehr¬
jährigem Wiedereinreiseverbot und
müßte bei Wiedereinreise die Abschie-
bekosten erstatten.
2.12.95. In Kassel findet eine bun¬
desweite Demonstration gegen Ab-
schiebeknäste statt. Die ca. 700 Teil¬
nehmerinnen fordern die Freilassung
der Meuterer, die am 24.7.1994 im
Abschiebeknast Elwe (Kassel) bei
einem Aufstand einen Wärter alsGeisel
genommen haben und inzwischen zu
hohen Haftstrafen verurteilt wurden.
11 der Meuterer erhielten Haftstrafen
zwischen 18 Monaten und fünfeinhalb
Jahren. Lediglich ein GSG9-Reamter
wurde wegen Körperverletzung
(Schläge in den Magen) zu 4.800 DM
auf Bewährung verurteilt, obwohl es
nach Niederschlagung der Revolte zu
schlimmen Mißhandlungen an den
Gefangenen gekommen war. '
3.12.95. DerparlamentarischeStaats-
sekretär im Arbeitsministerium, Horst
Günther, teilt mit, daß die Anzahl der
Fahnderinnen gegen die illegale Be¬
schäftigung von Ausländerinnen von
450 auf ca. 1500 im Jahre 1996 auf¬
gestockt werden soll, um eine “Kon¬
trolle Tag und Nacht - auch am Wo¬
chenende” zu ermöglichen. Außerdem
soll die Höchstgrenze der Bußgelder
von 100.000 auf 200.000 DM erhöht
werden.
2
S
I
00
8
1.
1
SF 1/96 [9]
Der Bundestag beschließt einen Ge¬
setzentwurf, nach dem ein Flüchtling,
der aus der Abschiebehaft heraus seinen
ersten Asylantrag stellt, nicht sofort
entlassen werden muß, sondern 4 Wo¬
chen in Abschiebehaft gehalten werden
kann. Diese 4-Wochen-Frist kann
verlängert werden, wenn der Asylantrag
voraussichtlich als “offensichtlich
unbegründet” oder “unbeachtlich” ab¬
gelehnt werden wird.
4.12.95. Erika Drees wird zu einer
Geldstrafe von 15 Tagessätzen über 70
DM verurteilt. Sie hatte einen Aufruf
zur gewaltfreien Entzäunung des Ab-
schiebeknastes in Worms .(10.12.94)
unterzeichnet. Ein Großaufgebot der
Polizei hat die Aktion damals verhindert.
Die Staatsanwaltschaft leitete gegen alle
600 Unterzeichnerinnen des Aufrufs
g Ermittlungsverfahren ein. Die meisten
*g wurden gegen Zahlung von 300 DM
;> eingestellt. Wer Widerspruch einlegte,
t mußte meist nichts zahlen, das Ver-
^ fahren wurde trotzdem eingestellt. 5
u Mitglieder des Aktionskreises wurden
| ebenfalls zu 15 Tagessätzen verurteilt,
m 7 zu 30 Tagessätzen wegen Auffor-
2 derung zur Sachbeschädigung bzw.
Landfriedensbruch. Einer der Richter,
Hertz-Eichenrode, betonte, daß die
Ausländerinnen “die nationale Identität
zerstören” würden.
5.12.95. Das “Kurdistan Informa-
tionszentrum” in der Mainzer-Land¬
straße (Frankfurt/Main) wird auf An¬
weisung des hessischen Innenministers
geschlossen, verboten und ein Großteil
der Einrichtung beschlagnahm t. In den
folgenden Tagen intensiviert die Polizei
massiv ihre Präsenz in der Umgebung,
um eventuelle Protestaktionen schon
im Keim zu ersticken. Der Vorstand
des Zentrums will vor dem Verwal¬
tungsgerichtshofklagen, da die Schlie¬
ßung ihrer Meinung nach sachlich
grundlos ist und lediglich vor dem
Hintergrund des Deutschlandbesuches
der türkischen Ministerpräsidentin am
gleichen Tag und der geplanten Auf¬
nahme der Türkei in die europäische
Zollunion zu verstehen sei. Die Kom¬
munale Ausländervertretung der Stadt
fordert die Aufhebung des Verbotes.
Ebenfalls am gleichen Tag durchsucht
die Polizei und verbietet der Innenmi¬
nister den ‘Kultur- und Unterstützungs¬
verein des Kurdischen Volkes” in
Frankfurt/Main und “besucht” auch die
Wohnungen der Vereinsvorsitzenden.
Begründet werden beide Verbote mit
der Unterstützung der PKK.
Die Verhandlung des BVG über das
Asylrecht wird fortgesetzt und beendet.
In der Verhandlung über die “sichere
Herkunftsländer”-Regelung stellt sich
heraus, daß das Auswärtige Amt in
seinen Lageberichten Hinrichtungen in
Ghana(1990:9,1993:12) verschwiegen
hatte. Gegenteilige Meinungen von
Landesjustizministerien und Verwal¬
tungsgerichten wurden bei der Ein¬
stufung Ghanas als sicheres Herkunfts¬
land ignoriert. Der Prozeßbevollmäch¬
tigte Kanthers, Prof. Kay Hailbronner,
kündigt als Folge der Verhandlungen
an, das Flughafenverfahren zu verein¬
heitlichen und gesteht “Defizite und
Übergangsprobleme” bei der Drittstaa¬
tenregelung ein. Es wird der Fall einer
Iranerin vorgetragen, die zwischen der
BRD und der Tschechischen Republik
hin- und hergeschoben wurde. Kanther
erklärt zum Abschluß der Verhandlun¬
gen, daß die Asylgesetze prinzipiell
bestätigt worden wären. AufEinzelfälle,
die das Gegenteil beweisen könnten,
will sich seine Behörde flexibel einstel¬
len, wie bei der damaligen Streichung
Gambias von der Liste sicherer Her¬
kunftsländer. Ähnliches könnte er sich
mit Ghana vorstellen. Ein Urteil wird
für Februar 1996 oder später erwartet.
Der sächsische Justizminister, Steffen
Heitmann, fordert, daß individuelle
Grundrechtauf Asyl abzuschaffen, falls
das BVG Teile des Asylkompromisses
für verfassungswidrig erklärt.
6.12.95. Im November 1995 kamen
13.153 Asylbewerberinnen in die BRD.
davon ungefähr 3.330 aus Serbien und
Montenegrien, 2.400 aus der Türkei.
Das ist der höchste Monatswert seil fast
2 Jahren. Die Anerkennungsqubtc be¬
trug im November 8%.
Der abgelehnte kurdische Asylbe¬
werber Ahmet Demirkiran karin sich
seiner drohenden Abschiebung durch
Fluchtaus der Psychiatrie Erlangen ent¬
ziehen. Eine Kirchgemeinde aus Höch-
stadt bringt ihn in Sicherheit.
7.12.95. Der Düsseldorf Ländtag
(Nordrhein-Westfalen) setzte als zwei¬
tes Bundesland nach Berlin eine EU-
Richtlinie in Landesrecht um, nach der
EU-Ausländerinnen ab 1996 bei den
Kommunalwahlen wahlberechtigt sind.
Bayerns und Rumäniens Innenmi¬
nistervereinbaren eine engepolizeiliche
und geheimdienstliche Zusammenarbeit
gegen die “rumänisch-deutschen Ver¬
brecherbanden”, die seit 1990 allein in
Bayern 200 Straftaten verübt hätten und
1994 5.000 in der gesamten BRD. So
beschließen Günter Beckstein und Ioari
Dora Taracila den Austausch von poli¬
zeilichen Erkennmissen, Fotos, Fin¬
gerabdrücken, Zeuginnen und Be¬
schuldigten, gemeinsame Fortbil¬
dungskurse für Polizistlnnen, gegen¬
seitige Besuche der Fahnderinnen und
Sicherheitsexpertinnen, die Förderung
persönlicher Kontakte sowie die Erar¬
beitung einer gemeinsamen Strategie
gegen das “internationale Verbrechen”.
Die Qualität von Interpol sei für die
internationale Arbeit keineswegs aus¬
reichend.
Das Bundesinnenministerium (BMI)
will die Verantwortung für die Ab¬
schiebung von Flüchtlingen loswerden.
Deshalb verhandelt das BMI mit der in
Genf ansässigen Internationalen Orga-
msation für Migration (IOM), welche
o e Koordination der Abschiebungen
übernehmen soll. Die IOM, eine zwi-
[10] SF 1/96
schenstaatliche Organisation 59Länder,
organisiert zurZeit schon die freiwillige
Ausreise und Weiterwanderung von
Flüchtlingen (20.000 Flüchtlinge jähr¬
lich aus der BRD in ihre Herkunfts¬
länder, darunter 17.000 abgelehnte
Asylbewerberinnen). Die Meinungen
bei der IOM überdas Angebot des BMI
vom 21.9.95 sind geteilt. Ein internes
IOM-Papier warnt davor, daß bei der
Ablehnung Bund und die Länder die
Gelder für die IOM streichen könnten
und betont den Vorteil einer zentralen
Ausreise- und Abschiebeverwaltung.
11.12.95. Das Amtsgericht Wies¬
baden verurteilte einen Kurden zu 18
Monaten Haft ohne Bewährung und
verhängte damit ein weit höheres Straf-
m aß, als von der S taatsanwaltschaft ge¬
fordert (7 Monate auf Bewährung). Der
Kurde soll während einer verbotenen
Demonstration im März 1994 eine
Bcnzinflasche - ohne sie angezündet zu
haben - mehrmals in Richtung Polizei
geworfen haben.
Das Landgericht Magdeburg bestätigt
den Freispruch eines Polizisten durch
das Amtsgericht. Der Polizist hatte am
Himmelfahrtstag 1994 bei den rassisti¬
schen Ausschreitungen in Magdeburg
einen Flüchtling aus Irak bei der Fest¬
nahme getreten. Weitere 15 Ermitt¬
lungsverfahren gegen Polizistlnnen
wurden schon eher mangels Beweisen
eingestellt. Sie hatten damals die Afri¬
kaner, die vor den Hools und Faschos
flüchteten, festgenommen, geschlagen
bzw. durch die Verfolger verprügeln
lassen ohne einzuschreiten.
12.12.95. Das Verwaltungsgericht
Wiesbaden entscheidet, daß bosnischen
Bürgcrkriegsflüchtlingen nach §32a
AuslG eine Aufenthaltsbefugnis erteilt
werden muß und nicht nur - wie es die
gängige Praxis ist - eine Duldung. Die
Städte Frankfurt/Main, Wiesbaden und
der Kreis Main-Kinzig hatten geklagt,
damit das Land Hessen die Kosten für
d i e bosn ischen Flüchtlinge übernehmen
muß. Die Kosten für Flüchtlinge mit
Duldung müssen in Hessen die Kom¬
munen tragen. Das Land Hessen willigt
in die Erteilung einer Befugnis jedoch
nur ein, wenn der Bund die Hälfte der
Kosten übernimmt und die Niederlas¬
sungsfreiheil der Flüchtlinge einge¬
schränkt wird, so daß in jedem Bundes¬
land gleichmäßig viele untergebracht
sind.
Die SPD fordert, Ghana von der Liste
“verfolgungsfreier Herkunftsstaaten”
zu streichen. Die Verhandlung vor dem
BVG habe gezeigt, daß das Auswärtige
Amt den Bundestag falsch informiert
hätte, (siehe 5.12.95)
Nach Angaben der Bundesregierung
leben zur Zeit 6,99 Millionen Auslän¬
derinnen in der BRD (8,6% der Ge¬
samtbevölkerung). 22,4% der Aus¬
länderinnen stammen aus einem EU-
Land, 28% aus der Türkei.
13.12.95. Ein Kurde übergießt sich
auf dem Hamburger Hauptbahnhof mit
Benzin und zündet sich an. Er erleidet
dabei lebensgefährliche Verletzungen.
Der seit 1993 in der BRD lebende Kurde
hat eine Abschiebungsverfügung für
den 14.12. erhalten. Die Polizei streitet
ab, daß der Selbstmordversuch etwas
mit der Ausweisung zu tun hat, sondern
gibt dem Kurden, der mit Drogen han¬
deln würde und deshalb Probleme
bekommen habe, selbst die Schuld.
In Hamburg beginnt der erste Prozeß
im Rahmen des Hamburger Polizei¬
skandals gegen einen Polizeibeamtem,
der einem Afrikaner Desinfektionsspray
ins Gesicht gesprüht hat. In zwei anderen
Fällen ergingen inzwischen ohne eine
Verhandlung Strafbefehle wegen Frei¬
heitsberaubung und Nötigung. Sechs
Verfahren wurden eingestellt, 13 andere
laufen noch.
amnesty international erklärt gegen¬
über dem Bürgermeister Bremens,
Henning Scherf, daß die zwangsweise
Verabreichung eines Brechmittels an
mutmaßliche Drogendealerlnnen
“grausam, unmenschlich und erniedri¬
gend sei”. Vor allem Ausländerinnen
werden in Bremen von der Polizei ge¬
zwungen, den Brechsirup zu trinken,
um während des Stunden andauernden
Erbrechens eventuell verschluckte
Drogenpäckchen zu Tage zu befördern.
Wer sich wehrt, wird häufig geschlagen
und schikaniert. Die S taatsanwaltschaft
ermitteltauf Betreiben des Bremer Anti-
Rassismus-Büros gegen zwei Polizisten
und einen Gerichtsmediziner.
In dem Berliner Wohnheim Zingster
Str. (Hohenschönhausen), welches vor
allem von vietnamesischen ehemaligen
Vertragsarbeiterinnen bewohnt wird,
findet eine mehrstündige Polizeirazzia
statt. 175 Personen werden festgenom¬
men und erkennungsdienstlich behan¬
delt. DiePolizei begründet ihrenEinsatz
mit der “Gefahrenabwehr” und der
Suche nach “Illegalen und Straftätern”.
Die Razzia fällt praktischerweise in die
Zeit der geplanten Schließung dieses
Wohnheimes, welches der Arwobau
untersteht. Alle Mieterinnen der Zing¬
ster Str. erhielten ihre Kündigungen für
den 31.12.95. Ersatzwohnraum ist noch
nicht in Sicht.
14.12.95. Die ökumenische Arbeits¬
gemeinschaft “Asyl in der Kirche” ap-
pelliertan die Innenministerder Länder,
einen sofortigen Absehiebestopp für
Kurdinnen und Christinnen aus der
Türkei zu erlassen. Von ca. 120 Flücht¬
lingen, die sich zur Zeit in der BRD im
Kirchenasyl befinden, stammen über
die Hälfte aus der Türkei.
Die Innenminster der Länder und der
Bundesinnenminister entscheiden sich
auf ihrer Konferenz in Erfurt für eine
gestaffelte Rückführung von 320.000
Bürgerkriegsflüchtlingen nach Bosnien.
Aufgrund der “winterlichen Bedin¬
gungen” soll den Flüchtlingen noch et¬
was Zeit gegönnt werden. Der bis zum
31.3.96 gültige Absehiebestopp wird
SF 1/96 [11]
nicht noch einmal verlängert. Wer nach
dem 15.12.95 einreist erhält keine
Duldung, Die Einzelheiten der Rück¬
führung, wie der Abschluß eines Rück¬
führungsabkommens, sollen im Januar
1996 auf einer Sonder-Innenminister-
konferenz beschlossen werden, Rund
50 Vertreterinnen bosnischer Flücht¬
lingsvereine protestieren vor dem Ge¬
bäude und halten eine Mahnwache ab.
Die* Minister sprechen sich für eine
engere Zusammenarbeit mit Rumänien
in der Bekämpfung der organisierten
Kriminalität aus und für ein verstärktes
Vorgehen gegen das “Problem ständig
steigender Ausländerkriminalität”.
Ein Flüchtling aus Bulgarien, der am
heutigen Tage abgeschoben werden
sollte, begeht zwei Selbstmord versuche.
Erst stürzt er sich in seiner Wohnung in
Fulda aus dem Fenster, danach versucht
er sich auf der Polizeiwache in Neuhof
mit seinem Schnürsenkel zu erhängen.
Der Bundesrat lehnt den Gesetzent¬
wurf der B undesregierung vom Oktober
95 über ein neues Asylbewerberlei¬
stungsgesetz ab. Das geschieht jedoch
nicht hur wegen der umfangreichen
Kürzungen für Flüchtlinge sondern auch
weil das neue Gesetz an die Streichung
der Arbeitslosenhilfe geknüpft ist. Die
SPD-regierten Länder sprechen sich
gegen eine unbefristete Reduzierung
der Sozialhilfe um 20% aus (bislang: 1
Jahr lang), treten jedoch gleichzeitig
für eine Verschärfung ein, was den
betroffenen Personenkreis angeht: so
sollen Bürgerkriegsflüchtlingezukünf¬
tig wie Asylbewerberinnen behandelt
werden, d.h. reduzierte Leistungen er¬
halten. Die Wohlfahrtsverbände der
Kirchen, Diakonie und Caritas, kriti¬
sieren in einer gemeinsamen Presseer¬
klärung das geplante Asylbewerberlei¬
stungsgesetz. Es beeinträchtigt das
Grundrecht auf körperliche Unver¬
sehrtheit, grenzt Asylbewerberinnen aus
und verletzt den Gleichheitsgrundsatz.
16.12.95. In Berlin findet eine De¬
monstration gegen den im November
95 eröffneten Abschiebeknast Grü-
nauerstr. statt. Im neuen Knast sind
inzwischen 170 der 350 Plätze belegt.
Unter anderem die hungerstreikenden
Flüchtlinge aus dem Knast in der
Kruppstr. wurden in die Grünauerstr.
verlegt. Außer der Überbelegung der
Zellen hat sich ihre Situation dadurch
aber nicht geändert. Ob die Kruppstr.
geschlossen wird oder als zusätzlicher
Abschiebeknasterhal ten bleibt, istnoch
nicht geklärt.
Wegen einer Schießerei auf dem S-
Bahnhof Treptower Park (Berlin), bei
der ein Vietnamese erschossen wurde,
verstärkt die Polizei ihre Arbeitsgruppe
“Vietnam”.
Die Chronik ist in ihrem vollen Umfang
(deT SF muß auf Platzgründen immer
wieder Meldungen herausnehmen) als
txt.-Datei oder als doc.-Datei auf
Diskette beziehbar. Auf ihr befindet sich
auch ein erster Index mit Stichworten
sowie Hinweise auf Zeitungsartikel, die
die gesammelten Daten und Aussagen
belegen. Wer sich dafür interessiert,
kann sich an die Redaktion oder am
besten direkt an den Infoladen Leipzig
wenden: Infoladen (im Corme Island),
Koburger Str. 3,04277 Leipzig
Neuerscheinung
focus
philippines
Journal 6f »he Stiftung für Kinder
Voi.m
No. 2
November 1995
Herausgegeben in
Kooperation mildem
Philippwenbüroe.V.
Operation Bondoc
Deutsche Entwicklungshilfe
zur AufsUndsbekämpfu ng
Deuljche Auigabe
Karl Rössel:
Operation Bondoc
Deutsche Entwicklungshilfe zur Aufstands¬
bekämpfung
Herausgegeben von der Stiftung für Kinder, Freiburg i.Br.
und dem Rhilippinenbüro e.V. im Asienhaus, Essen
120 Selten mit Abbildungen, broschiert, DM 18,- incl. Versand
secolo Verlag, D - 49074 Osnabrück
ISBN 3-929979-26-8
In den achtziger Jahren wählte &
Bundesregierung für ihr
entwicklungspolitisches Projekt in de"
Philippinen ausgerechnet eine Hoch-
bürg der NPA-Guerilla aus: die ab9 e '
tegene Bondoc-Halbinsel. jZunäcns
wollten die bundesdeutschen P r °) e ^ e
betreiber dort den Bau einer ^ tra 'L l
durch das umkämpfte Gebietfördä
- ein Wunsch des philippinischen M''
tärs. Aufgrund heftiger öffentlicher n
tik mußte dieser Plan fallerigelasse
werden. Seitdem führt die Gesellscn#
für Technische Zusammenarbeit
dort ein auf 15 Jahre angelegtes "in*^
griertes ländliches EntwickJungsp^
jekT durch: das Bondoc Devetop^
Program. \
Wie Karl Rössel bei Recherchen v°'
Ort herausfand, fügt sich auch da
aktuelle GTZ-Konzept .exakt in d\
Strategie der Aufstandsbekämpfu^
des philippinischen Militärs ein. Dl
•Entwicklungshelfer* sammeln sog
Spitzelinformationen über die Gueni
und beraten sich regelmäßig mit de
Militärs.
Bezeichnend ist zudem das Innenie*
ben des Projekts: ein GTZ-Berat e
vor Ort verdient so viel wie alle 4
philippinischen Projektmitarbeiter zjj'
sammen. Während die Zielbevo ■
kerung in Elendshütten leben mu߬
ließ die GTZ für ihre beiden de«'
sehen “Experten* Luxusvillen mi
Privatstrand bauen.
Dieser Band dokumentiert mit bislang
unveröffentlichten internen Projekt'
papieren und ‘Protokollen sowie Stel¬
lungnahmen von Beteiligten und Ver¬
antwortlichen einen entwickiungs-
politischen Skandal ersten Ranges.
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[12] SF 1/96
von Michael Wilk
mpi
W0§M
SSfftSS^"
W$ J ' : 'ß<£k
M.e*i
1. Eigen(mächtig)es
Denken und Handeln
I jjjl nur noch bei Anhängerinnen von
SS| Systemen mit starrer linearer Hirarchie
IUI lösen diese Begriffe Angst und Schrek-
ken aus, stehen für Gehorsamsverwei-
B8 gerung und staatsgefährdende Insubor-
jj§| dination. Der moderne, aufgeklärte
ipj| Mensch denkt in der Regel anders, nicht
: : | ! Untertanengeist ist gefragt , sondern
jj|p|j|l^ Selbstbewußtsein und Selbstständig-
it ilgl keit.
I Nicht das die “alten” Qualitäten, seien
es z.B. Gehorsam und Anpassung ihren
Wert verloren hätten, aber weg vom
rein passiven Ausführen einer Anwei¬
sung , wird nun ein erweitertertes aktives
Agieren in eigenem Verantwortungs¬
bereich erwartet So klingt die Forde¬
rung nach “Flexibilität und kreativem
Umgang bei Problembewältigung”
Foto: Herby Sachs/Version
nicht nur freundlicher, sondern be¬
zeichnet tatsächlich das Bestreben, die
“alten” Tugenden, um die einer “Eigen¬
verantwortlichkeit” zu erweitern, die
im ökonomischen Bereich eine höhere
Effektivität und im psycho- sozialen
eine stärkere Anbindung zur Folge hat
Wenn heutzutage immer mehr Be-
grifflichkeiten aus (ehern.) linkem Kon¬
text in jedem besseren Handbuch für
Firmenmanagement zu finden sind, so
steht dies weniger für das Durchset¬
zungsvermögen diverser systemkri¬
tischer Ansprüche, sondern vielmehr
für die Fähigkeit eines Systems, Ab¬
weichungen in bare Münze- und oder
auch sozialhygienisch zu utilisieren.
Die Ansätze einer außerparlamenta¬
rischen Organisierung nach 68 und die
folgende Bürgerinitiativenbewegung
haben dem System in diesem Sinne
einen nützlichen Dienst erwiesen. Sie
haben, von einem richtigen Ansatz her
kommend, nämlich der Interessens¬
delegation und der parlamentarischen
Verwaltung der Menschen eine andere
Ebene entgegenstellen zu wollen, längst
ihren Schrecken fürdiejenigen verloren,
die in ihnen die Keimzelle der Anarchie
sahen.
Noch 1975 war dies anders: Die
Bewegung gegen den Bau des Atom¬
reaktors bei Wyhl ließ die FA2 er¬
schaudern "Hier wird so wenig wie
möglich sortiert und reglementiert. Bei
den oft leidenschaftlichen Meinungs¬
verschiedenheiten sucht man lediglich
das unvermeidliche Maß an Überein¬
stimmungen. Das geschieht vielfach mit
erstaunlicher Disziplin. Dennoch haftet
diesen Bürgerinitiativen etwas anar¬
chistisches an. Nicht zufällig entziehen
sie sich vollständig den Parteien ... "
(FAZ 14.6.75)
Bestrebungen sich den Zwangsvor¬
gaben der Regierungsvertreter eigen¬
initiativ entgegenzustellen, Bau und
andere Pläne nicht einfach “strahlende”
Realität werden zu lassen, löste bei uns
Begeisterung - bei anderen die Vision
eines zerbröselnden Rechtsstaats aus:
“ein Alptraum des Bundeskriminal-
amts-Präsidenten Herold, weil dies
nach seiner Ansicht das Ziel aller
«Staatsfeinde» ist: der «bewußte Auf¬
bau von Gegenmacht gegenüber diesem
Staat oder die Leugnung des staatlichen
Gewaltmonopols-», weshalb bereits der
Versuch von «Gegenmachtsymbolen»
zu unterbinden sei. Wyhl - wie auch
immer es dort ausgehen mag - ist zu
einem solchen «Gegenmachtsymbol»
geworden...." (Sebastian Cobler, Die Ge¬
fahr geht vom Menschen aus, Rotbuch¬
verlag 1976)
Die Staatsvertreterinnen reagierten
vorerst klassisch: im Februar 1975 er¬
folgte die Räumung des von 20000
Menschen besetzten Baugeländes mit¬
tels eines massiven Polizeieinsatzes.
Viele Verhaftungen und Strafverfahren
folgten. Trotz der Versuche den breiten
Widerstand mit den üblichen Mitteln
zu kriminalisieren, gelang es nicht, die
Bewegung zur Aufgabe zu zwingen.
Das AKW Wyhl wurde nicht gebaut,
der Widerstand gegen das Projekt wurde
zum Meilenstein der Bürgerinitiativen¬
bewegung, zum vielzitierten Beispiel
erfolgreichen Vorgehens gegen selbst¬
herrliche Staatsmacht, zudem noch
beispielhaft verkörpert in der Person
des Ministerpräsidenten Filbinger, des
früheren NS -Militärrichters (ein Tatbe¬
stand, der uns leider damals noch nicht
bekannt war).
So sehr auf unserer Seite die Begeis¬
terung, für die Möglichkeit die schein¬
bare Omnipotenz des Staates zumindest
partiell zu knacken, zu der Illusion führ¬
te, daß mit dem Widerstand gegen das
Atomprogramm ein entscheidender
Hebel gegen eine uns autokratisch er¬
scheinende Herrschaftsmaschinerie
gefunden sei, so sehr hinterließen die
EreignisseaufSeitenderPoIitikerlnnen
die unangeneme Erfahrung einer neuen
Art von Konfrontation. Neu deshalb
weil sich anders als 1968 nicht nur
wildgewordene Bürgerkinder”, son¬
dern die Bürger (und Bauerinnen) selbst
zu Trägerinnen des Widerstands wurden
(z.B. den Bauplatz besetzten, ein Hüt¬
tendorf errichteten). Der Dissens ge¬
genüber dem System war über eine
leicht zu isolierende radikale Minderheit
hinausgewachsen, hatte eine Form an¬
genommen, die den Rahmen einer üb¬
lichen Bürgerpedition deutlich sprengte,
ja sie verließ sogar den tugendhaften
Rechtsweg und ging zur direkten Aktion
über. Eine bittere Angelegenheit in einer
Situation, in der die staatlichen Organe
eher auf die Unterstützung ihrer Bür¬
gerinnen angewiesen waren, galt es
doch die gerade im Verlauf der siebziger
Jahre angewachsen “Bedrohung durch
terroristischeGruppen”durch “Mithilfe
der Bevölkerung” in den Griff zu be-
kommen.
Die erfolgende massive Aufrüstung
am Thema “Innere Sicherheit”, die Ver¬
schärfung der Strafgesetze und der Pro¬
zessordnung sowie die materielle und
personelle Verstärkung der Polizei
waren nur der primäre Reflex der staat¬
lichen Institutionen auf die vielfältigen
Gefahren denen sich der Rechtsstaat
ausgeliefert sah. Diese erste, schnelle
Antwort der Obrigkeit wurde damals
mit der Bedrohung der Rechtsordnung,
die von “terroristischen Organisatio¬
nen” (namentlich der RAF und dem
2.Juni) begründet. Die Zuspitzung der
Ereignisse, die Verschärfung einer mi¬
litant/militärischen Gangart in der Aus¬
einandersetzung zwischen Staatsor¬
ganen und bewaffhetkämpfenden Grup¬
pen waren vordergründiger Anlass für
jenes staatliche Vorgehen, das in den
“Deutschen Herbst 77” mündete und
Deutschland mit einem beispiellos re¬
pressiven Klimabelegte. Es ging jedoch
um mehr, als den Versuch, die relativ
kleine Guerilla zu zerschlagen; die
Angst der bundesdeutschen Repräsen¬
tanten beschränkte sich nicht auf die
(zu dieser Zeit zunehmend in die
Isolation geratenden) Aktionen der RAF
(erinnert sei an die Entführung der
Lufthansamaschine Landshut und die
Selektion der jüdischen Passagiere),
sondern sie fürchtetenbreiterenUnmut:
“Die Angriffe auf die Ordnung ” , so der
damalige Präsident des Bundesverfas¬
sungsgerichts, Emst Benda, "haben in
den terroristischen Aktivitäten nur einen
besonders dramatischen Ausdruck g e '
fanden. Das Gesamtbild ist durchaus
ernster . Es wird auch im Falle eine?
vollständigen Zerschlagung solcher
Tätigkeiten der kriminellen Vereint-
g ungen weiter Anlaß zu Besorgnis und
Wachsamkeit geben ... Die Gefahr (geht)
von gesellschaftlichen Gruppen mit
verf issungsfeindlicher Zielsetzung aus,
und die trifft mit einer sich langsam
verbre itenden Verfassungsverdrossen -
heit in der Bevölkerung zusammen , die
sich bei den Älteren in Gleichgültigkeit
ausdrückt , bei vielen jüngeren Men -
sehen als Skepsis , offene Ablehnung
oder romantische Hinwendung zu den
Idealen anderer Gesellschaftssysteme
erscheint ’ . (E. Benda,Der Rechtsstaat in
der Krise, Stuttg.72)
Daß es weniger um die Ablehnung
einer abstrakten Verfassung ging, son¬
dern (am Bsp. der AKWs) um existen¬
zielle Ängste, wie auch um die mangelde
Möglichkeit auf staatliche Entschei¬
dungen, die sich eher an den Bedürf¬
nissen der Industriemagnaten als an de¬
nen der Bevölkerung orientierte, Ein¬
fluß nehmen zu können, kümmerte
wenig. Ein von der CDU am 4.7.75 vor¬
gelegtes “Offensiv-Konzept” beschrieb
gar schröckliches; “Die Aufnahmebe¬
reitschaft für die von den Anarchisten
vertretenen gesellschaftspolitischen
Utopien wurde gefördert durch ... (den)
Verlust von Orientierungswerten;
(durch) einen fortschreitenden Autori¬
tätsverlust des Staates aufgrund einer
falsch verstandenen Liberalisierung;
(durch) die gezielt propagierten Zweifel
familiärer , nachbarschaftlicher und
[14] SF 1/96
religiöser Bindungen ... es geht nicht
an, daß in Jahrhunderten gewachsene
Werte und kulturelle Leistungen leicht -
hin in Frage gestellt werden; (daß) jun¬
gen Menschen in Schulen und Hoch¬
schulen ein Weltbild vermittelt wird ,
das den einzelnen Menschen und von
ihm geschaffene kulturelle Werte nichts
and die angebliche Kraft der Gesell¬
schaft und deren Evolution alles sein
läßt ;.. . es ist eine vorrangige Aufgabe
(des Staates als ordnender Kraft), daß
äie grundlegenden Prinzipien unserer
staatlichen Ordnung nicht zur Dispo¬
sition gestellt werden (Offensiv-
Konzept- der CDU, Bonn, 4- 7-1975, S-14)
Noch genauer brachte es der damalige
Bundeskanzler Helmut Schmidt auf den
Punkt, als er das formulierte was damals
wie heute am meisten von den Damen
und Herren auf den Regierungsbänken
gefürchtet wird: " Gefährlicher, ja
e *istenzbedrohender wäre es, wenn der
Rechtsstaat die Solidarität und die
Selbstidentifikation seiner Bürger ver¬
löre.” (Rechtspolitischer- Kongreß der
SPD, zitiert nach Bundestag, 12.6.1975, S-
!2435, Zit.n.S.Cobler)
Zeitsprung
Gut zwanzig Jahre später finden wir
uns in einer Situation, in der (um am
Beispiel der Atomenergie zu bleiben)
sich zwar die weitaus größte Mehrheit
der Bevölkerung gegen Atomkraftwer¬
ke ausspricht, mehrere Großprojekte
am Widerstand gescheitert sind, aber
nichtsdestotrotz zig Atommeiler munter
vor sich hin blubbern. Das Ausstiegs¬
programm der SPD ist offensichtlich
das Papier nicht wert auf dem es ge¬
schrieben wurde (wen wunderts) und
grüne Umweltministerinnen waschen
sich die Hände in Unschuld, sind sie
doch den Weisungen aus Bonn unter¬
worfen. Nur ein Häuflein Unentwegter
bemüht sich um Kontinuität, zelebriert
den sich jährenden Katastrophentag von
Tschernobyl. Was bleibt sind letzte
Kristallisationspunkte z.B. Gorleben,
richtig und wichtig und doch drängt
sich die Frage auf: Was ist passiert?
Was ist aus den Befürchtungen Helmut
Schmidts geworden, deren reziproker
Wert die Grundlage für die Hoffnung
auf eine weiterreichende emanzipative
Bewegung darstellte.
Die Kriminalisierung der militanten
Anteile der sozialen Bewegungen waren
(und sind) wie gesagt, nur der erste
Reflex auf die Abweichung von der
Regel und dem populärer werdenden
zivilen Ungehorsam. Weitaus wirksa¬
mer erwies sich die im Laufe der Jahre
erwiesene Offenheit gegenüber den
systemkritischen Ansätzen in einer zu¬
nehmend differenzierteren Form, wie
auch die Instrumente offener Repression
zunehmend differenzierter eingesetzt
wurden. So wie sich bemüht wurde die
Fehler der Anfangszeit zu vermeiden
und z.B. nicht mehr auf alle einzu¬
schlagen, oder alle zu verhaften, son¬
dern nur noch die als militant Bezeich-
neten, so wurde sich darum bemüht
nicht mehr die Inhalte und die Form in
ihrer Gesamtheit zu verteufeln (“Alles
Spinner, dann gehen die Lichter aus”).
Ein Prozess der Zeit und eine gewisse
Flexibilität erforderte und der der SPD,
deren “linker Flügel” bis in die Reihen
diverser Bewegungen reichte, leichter
fiel als der CDU. Wohlgemerkt ging
(und geht) es nicht darum, alle Inhalte
und Ziele der diversen Bewegungen zu
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V- die damit zunehmend unter Beweis
. . reintegrieren - nur das sozusagen halb-
we S s Verd auliche fand Aufnahme in;
' die D i skussionsrun den und Parteitags- j
palaver. Die Gründung und voran- j
schreitendeEtablierungderGrünen und!
Foto: Theo Heimann
gestellte und von den Parteistrategen
gefürchtete Integrationsunfähigkeit,
veranlaßten die SPD zwangsläufig dazu,
einige der, vor allem ökologisch orien¬
tierten Punkte in das eigene Programm
aufzunehmen. Eine forcierte Bündnis¬
politik mit den Grünen- deren etablie¬
rungswütiger Flügel sich gegen die
IHussionistlnnen, die geglaubt hatten
emanzipative Poliük parlamentarisch
praktizieren zu können, durchgesetzt
hatte- trug ein übriges dazu bei die
ursprünglichen Forderungen auf ein
schluckbares” Maß schrumpfen zu
lassen. Die aufbereiteten Inhalte und
Formen wurden dem System einver-
leibt, und quasi im Verdauungsprozess
dem Staatsorganismus wieder zuge¬
führt. Die Absorbtion progressiver
Vorhaben findet statt, indem diese so
ab geschliffen werden, daß sie die
herrschende Ordnung nicht bedrohen,
während sie zugleich in dem Ausmaß
verwirklicht werden, welchesKritikam
Staat nicht aufkommen täßt.(...)Präziser
gefaßt bedeutet «Absorbtion», daß ur¬
sprünglich transzendierende Einstel¬
lungen und Handlungen auf eine Weise
in die herrschende Ordnung integriert
werden, welche die dominierenden In¬
teressen nicht in Frage stellt."
(T.Mathiesen, Die lautlose Disziplinierung
AJZ 1985)
Helmut Schmidts Partei, die Alt¬
meisterin in der Kunst der “Absorbtion”
hat ihre klassische Funktion längst an
die Grünen abgegeben, deren Schwie¬
rigkeit momentan hauptsächlich darin
zu liegen scheint, daß es sowenig zu
absorbieren gibt.
Da nach diesen Ausführungen leicht
der Eindruck entstehen könnte, alle An¬
deren seien für Integrationsprozesse
verantwortlich, nur die Trägerinnen der
ursprünglichen Bewegung nicht, muß
an dieser Stelle bemerkt werden, daß zu
jeder Herrschafts- und Machtkonstel- |f
lation (und um die geht es nach wie vor)
natürlich mindestens zwei gehören; so ®
auch hier - die .die integrieren und die ™
die es zulassen.
Festzuhalten bleibt trotzdem, daß
nach dem mühsamen Entstehen einer
(z.B. ökologischen) Bewegung, die ein
erhebliches Maß an Distanz gegenüber
staatlicher Politik voraussetzte, die bei
allen Beteiligten viel Mut erforderte
den Protest in reale Widerstandsformen
umzusetzen, es neben den inneren Pro¬
zessen des Zerfalls, es die “Teile und
Herrsche Politik” und die Elastizität
sowie die Integrationskraft des Staates
war- die zur Schrumpfung der; Bewe¬
gung führte. |
Das System geht gleichsam gestärkt
aus der Auseinandersetzung hervor- be¬
reichert um die ihm nützlichen Inhalte
der Protestbewegung und auch berei¬
chert um die integrationsfähigen Men¬
schen, deren erwiesenermaßen kreati¬
veres Potential in die gemeinsame “Wir
-Ebene” der Volksgemeinschaft einge¬
bracht und damit gewinnbringend ver¬
marktet werden kann.
2. Zur Bedingung
Emanzipotiver Prozesse
Die Erkenntnis» daß Macht in ihrer
Wirkung innerhalb unserer Gesellschaft
nicht linear» nicht nur vertikal und hie¬
rarchisch verläuft» sondern auch hori¬
zontal wirksam ist, eben im Foucault¬
schen Sinne " die Menschen in ihfcn
Maschen zirkulieren läßt ”, zeigt nicht
nur den Anachronismus der ausschlie߬
lich repressionsorientierten Herrschafts¬
analytik auf, sondern weist auch jeden
Menschen ein bestimmtes Quantum an
Macht zu. Gemeint ist eben nicht das
ausschließlich passive Unterworfen-
und ausgeliefert sein unter anonyme
Machtprozesse» sondern das aktiv/pro¬
duktive Funktionieren innerhalb der¬
selben. Die damit verbundene Auf¬
wertung vom “Objekt” innerhalb der
eingesetzten Herrschaftsstrategien, hin
zum Subjekt der gesellschaftlichen Pro¬
zesse, läßt nicht nur das Gegenwarts¬
individuum seine “Unschuld” aisreines
Opfer der Verhältnisse verlieren, son¬
dern postuliert somit eben auch die
Möglichkeit der aktiven Einflußnahme.
Auch wenn diese “ Einflußnahme” ^
sich meist auf die Reproduktion von j
Herrschaftverhalten und Weitergabe f
von Herrschaftswissen beschränkt, ist
ihr Ursprung nicht ein durch Entmün¬
digung gleichsam vollniveliertes, schier
entpersonalisiertes Wesen, sondern ein
Mensch dessen Fähigkeiten, Ressour¬
cen und Bedürfnisse auch in der Lage
sind, das Regelwerk systematischer
normativer Erfüllung zu verlassen.
Dies istgewünschtund dienlich (siehe
Teil I). Abweichung von der Regel ist
das “Salz in der Suppe” einer modernen
Herrschaftsstruktur, ist die Grundlage
dafür, sich auf neue (z.B. Ökonom ische)
Bedingungen einstellen und reagieren
zu können. Unbeweglichkeit und Starr¬
heit haben sich gegenüber flexibelem
Umgang mit Irritationen, als die un¬
tauglicheren Mittel erwiesen. Es gilt
somit, nicht nur den Fortbestand der
Ordnung zu garantieren, sondern auch
die kreative Potenz der Abweichung
für sich zu sichern.
Unter welchen Umständen sich die
Aktivitäten konform (im Regelfall) und
unter welchen sie sich dissonant ver¬
halten, ist von vielen Faktoren abhängig,
ist jedoch stets Ergebniss eines spezi¬
fischen Prozesses, sowohl einer objekt¬
haften Ein- und Zuordnung, einer Funk-
tionszuweisung durch dss System, sls
auch der spezifischen Reaktion des In¬
dividuums als subjektive/rTrägerin von
Bedürfnissen und Fähigkeiten, auch
wenn diese wiederum interaktiv von
außen erzeugt oder geweckt wurden.
Die “Bemächtigung” des Menschen
uurch das System ist also durchaus in
doppelter Weise zu verstehen: Einerseits
im repressiv anpassenden - anderseits
im ausstattendem produktiven Sinne.
Die Beurteilung gesellschaftlicher
Zustände in Bezug auf die Möglichkeit
emanzipativer Prozesse bedarf also, soll
sie sich auf die vorabbeschriebene Fest¬
stellung beziehen, nicht nur der Klärung
aktueller Herrschaftsmethodik und der
entsprechenden quanti- und qualitativen
Verteilung von Macht (einschl. der Ge¬
genmacht), sondern vor allem auch die
Bedeutung einer Resistenz gegenüber
Integrationsmechanismen.
FfM.1986 ) dann zur Dominanz, wenn
sich viele Machtquellen vernetzen und
damit ein Anspruch auf soziale Unter¬
scheidung und Überlegenheit durch¬
gesetzt wird. Die Kohäsion, der Zusam¬
menhalt der in diesem Netzwerk Pri¬
vilegierten läßt sie möglichst alle Zu¬
gänge zu denRessourcenfür die Außen¬
stehenden verschließen, was eben nicht
unbedingtprimärmittelspersönlichem,
bewußtemundabsichtUchemAusschluß
geschieht, sondern vor allem auch durch
Strukturen, die eine stabile Asymmetrie
in der Verteilung von sozialen Positio¬
nen, das heißt von politischem und kul¬
turellem Einfluß gewährleisten. Diese
Ungleichheit äußert sich sowohl in dem
unterschiedlichen Zugang zu Ressour¬
cen als auch in der unterschiedlichen
Repräsentanz und Partizipation in der
Gesellschaft, was sich über ungleiche
Chancen im Bildungssystem, im Ge¬
sundheitswesen, auf dem Wohnungs¬
markt und über soziale Beziehungen
vermittelt, die bestimmte Gruppen von
Menschen tendenziell ausschließen”
(Birgit Rommelspacher, Oominanzkultur,
Or land a,1995 ) (Anmerkung des Verfas¬
sers: B.Rommelspacher unterscheidet
begrifflich Herrschaft von Dominanz,
indem sie Herrschaft aisauf Repression
gegründet- Dominanz jedoch, als auf
Zustimmung und intemalisierteNormen
gestütztes Verhältnis definiert. Ich ver¬
wende weiter die Bezeichnung “klas¬
sische” Herrschaftsmechanismen und
“moderne” Herrschmechanismen, im
gleichen Sinne)
Die Verteilung der Macht, die zwar
niemanden ausläßt, aber deshalb noch
lange nicht egalitär verläuft, schafft
Unterschiedlichkeiten die sich dann zu
Herrschaftsverhältnissen stabilisieren,
wenn ein Wechsel der Positionen nicht
mehr möglich ist- oder direkt verhindert
l line Strukturen zu liquidieren sucht.
; " Wenn einem Individuum oder einer
i gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein
I Feld von Machtbeziehungen zu blök -
| kieren, sie unbeweglich und starr zu
i machen und -mit Mitteln, die sowohl
| ökonomisch als auch politisch oder mi¬
litärisch sein können - jede Umkehr -
! barkeit der Bewegung zu verhindern ,
dann steht manvor dem, was man einen
Herrschaftszustand nennen kann.”
(M.Foucault, Freiheit und Selbstsorge,
Materialist
Die Mobilisierung persönlicher Res¬
sourcen zur Auflösung verfestigter
Machtverhältnisse setzt ein persönliches
Interesse daran voraus. Was lapidar
klingt, ist elementare Grundbedingung
eines jeden noch so partiellen emanzi-
pativen Ansatzes. Warum sollte jemand
den gewohnten Regelkreis verlassen,
der weitestgehend in der Lage ist die
Bedürfnisse (die ja zum großen Teil
innerhalb des Regelwerks erzeugt wer¬
den) zu befriedigen. Gerade die Mög¬
lichkeiten der Teilnahme an der Macht,
und an den Privilegien einer mitteleu¬
ropäischen “Konsum -Kultur”, lassen
die meisten Menschen eher ihr Heil in
Anpassung an die Erfordernisse des
mainstreams suchen und nicht in der
Abkehr, im Ausscheren, in kritischer
Distanz, geschweige denn in der Re¬
volte.
Jedes Herrschaftssystem ist also gut
beraten, innerhalb seines Einflußbe¬
reichs nur solche Bedürfnisse zuzulas¬
sen zu deren Befriedigung es in der La¬
ge ist - ja perfieder noch- Bedürfnisse
zu erwecken zu deren Befriedigung es
unabdingbar erscheint, die “Spielre¬
geln” des Systems exakt einzuhalten.
Ein System, das Bedürfnisse weckt
und gleichzeitig den Individuen die
Recourcen und Macht in die Hand gibt,
in scheinbar freier Selbstbestimmung
zur Befriedigung dieser Bedürfnisse
agieren zu können, bindet nicht nur den
betreffenden Menschen ein, sondern
verleiht ihm/ihr überdies noch das
Gefühl selbstbestimmten Handelns und
Denkens. (“Jeder ist seines Glückes
Schmied”)
“Wir können wahre und falsche Be¬
dürfnisse unterscheiden. Falsch sind
diejenigen, die dem Individuum durch
partikuläre gesellschaftliche Mächte,
die an seiner Unterdrückung interessiert
sind, auferlegt werden: diejenigen Be¬
dürfnisse, die harte Arbeit, Aggres¬
sivität, Elend und Ungerechtigkeit ver¬
ewigen. Ihre Befriedigung mag für das
Individuumhöchst erfreulich sein, aber
dieses Glück ist kein Zustand, der auf¬
rechterhalten und geschützt werden
muß, wenn es dazu dient, die Ent¬
wicklung derjenigen Fähigkeit (seine
eigene und die anderer) zu hemmen, die
Krankheit des Ganzen zu erkennen und
die Chancen zu ergreifen, diese Krank¬
heit zu heilen. Das Ergebnis ist dann
Euphorie im Unglück" (H.Marcuse,
1968, zit.n.M.Gronemeyer, Die Macht der
Bedürfnisse, rowohltl988)
[18] SF 1/9,6
Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß
in z.B. zentral-europäischen Systemen,
neben den “falschen” Bedürfnissen
nicht auch richtige (Grundbedürfnisse)
befriedigt würden. Die Differenzie¬
rungshoheit liegt jedoch in der Regel
beim System- der einzelne Mensch hat
kaum die Möglichkeit aus der Zirku¬
lation und Eingebundenheit heraus¬
zutreten und zwischen künstlichen und
Grundbedürfnissen zu unterscheiden;
Auch kann die Befriedigung der Grund¬
bedürfnisse (hier) als ein Privileg be¬
trachtet werden, welches an den Gren¬
zen der E.U. endet und das entsprechend
gegen Außenstehende verteidigt wird,
obwohl es gerade die Universalität ist,
die Grundbedürfnisse definiert und die
Befriedigung derselben allen Menschen
zugestanden werden muß (sei es die
Stillung von Hunger oder Wohnraum,
um nur zwei zu nennen). Das Wecken
von Bedürfnissen und die Möglich¬
keiten ihrer Befriedigung sind Regu-
lativeder Einbindung und Ausgrenzung,
schaffen Privilegien und das Bestreben
diese zu erhalten, sind aber ebenso im
Umkehrschluß möglicher Ausgangs¬
punkt des Aufbegehrens gegen dieje¬
nigen, die die Befriedigung versagen.
“Bedürfnisse sind auch aus der Pers¬
pektive der Macht zwiespälüg, ihrer
Ausbreitung und Vervollkommnung
förderlich, aber gleichzeitig eine ge¬
fährliche Keimzelle der Rebellion gegen
Unterdrückung. Die Macht muß das
waghalsige Kunststück riskieren, die
Begehrlichkeit gleichzeitig zu reizen
und mit äußerster Wachsamkeit im
Zaum zu halten, "(ebenda)
Bedürfnisse können sich somit in ihrer
Ambivalenz sowohl herrschaftsstabili¬
sierend als auch gefährdent auswirken,
können unter bestimmten Umständen
zum Ausgangspunkt eines emanzipa-
tiven Prozesses werden.
Auf den/die Einzelne/n bezogen, ist
die erste Bedingung für Abweichung
im Sinne einer Loslösung von der Regel/
Norm, das Entstehen einer inneren Di¬
vergenz - zwischen einer “subjektiven
Ich-Instanz” und einem System, daß
nicht in der Lage, oder Willens ist, Be¬
dürfnisse innerhalb seines Regelwerks
der “objektiven Normierung” zu be¬
friedigen.
Bezüglich eines “Privilegien- Sys¬
tems”, hat jedoch ein etwaiges Auf¬
brechen an der Oberfläche von an¬
sonsten tiefgreifenden Übereinstim¬
mungen noch keine moralisch/ethische
Qualität, die sich von der der Norm
wesentlich unterscheidet. Unmut in der
Bevölkerung über sozial- ökonomische
Verschärfungen ist in diesem Sinne
beileibe kein Grund, automatisch i n
* ‘sozial-revolutionäres Frohlocken” aus-
zubrechen. I
Verärgerung über die potenzielle Ge¬
fährdung der Privilegien schafft mög¬
licherweise eine gewisse Divergenz, die
sich jedoch als emanzipierendes Mo¬
ment schnell erschöpft, namentlich
dann, wenn die Infragestellung dcrrest-
lichen Privilegien droht Konkret heiß!
dies, daß z.B. der Arbeitskampf
innerhalb Deutschlands immer auch
Besitzstandswahrung bedeutet, die in
nationalen Werten “denkt” und sich im
schlimmsten Fall einen Dreck darum
schert, daß die für sich in Anspruch ge¬
nommene Befriedigung der Bedürf¬
nisse, auf den internationalen Rahmen
übertragen, völlig andere Konsequen¬
zen erfordern könnte. Dieemanzipative
Potenz einer “inneren Abweichung’
b.z.w. “Interessensdivergenz” gegen¬
über dem System, ist immer von der
jeweiligenPosition des Subjekts inner¬
halb einer Herrschaftsbeziehung ab¬
hängig. Interessensdi vergens hat inner¬
halb einer Privilegiengesellschaft wie
der unseren, eine andere Bedeutung und
Auswirkung als in Systemen “klassi¬
scher Hierarchie”.
Jede Phase eines emanzipativen Pro¬
zesses- sei die erste, die der partiellen
Distanz gegenüber dem System oder
die zweite, die eine graduelle Verselb¬
ständigung und Eigendynamik charak¬
terisiert- bestimmt sich zu jederzeit aus
der Wechselbeziehung der persönlichen
Position des Subjekts (Frau, Mann,
Hautfarbe, Klasse etc.) und der daraus
erwachsenden Motivation (mentale
Verfassung, Mut, Angst etc.) - und den
objektiven Bedingungen des (Herr-
schafts)Systems, seiner Flexibilität und
Integrationsfähigkeit ebenso wie die
Möglichkeitder Ausgrenzung, des Ver¬
schlußes und der Zerstörung.
(wird fortgesetzt)
die Enge zu treiben und gegeneinander
auszuspielen.
Anhand der Situation von Andrea
war für unsere Diskussion innerhalb
des Wohnprojektes klar, daß der Raum
zwischen Zeuge/Zeugin und Beschul¬
ebenfalls überden BGH. Besuch dürfen
sie alle 14 Tage für eine halbe Stunde
bekommen, die Mutter des Kindes kann
zusätzlich für eineinhalb Stunden alle
14 Tage ihr Kind sehen. Ansonsten
unterliegen sieden normalen Vollzugs¬
bedingungen.
Den Mitbewohnerinnen werden bis¬
her die Besuchsanträge abgelehnt, mit
der Begründung, daß die Aussagever¬
weigerung eine gemeinsame Entschei¬
dungaller Bewohnerinnen des Projektes
gewesen sei. Außerdem hätten die Be¬
wohnerinnen die Vorgeladenen zum
Neues zu den Verfahren
und
Zeuginnenvorladungen
der Bewohnerinnen der
Fritzlarer Straße/ Frankfurt
Anmerkung der Redaktion:
Aufgrund des Besitzerwechsels eines
Motorrades, das leider ausgerechnet dem
^ Q d Kleinen auslösendem Spitzel Klaus
Steinmetz gehörte und in den Besitz einer
Bewohnerin eines Hauses in der Fritzlarer
Straße (Frankfurt) übergangen ist, wurden
die Bewohnerinnen zum einen als " Zeugen "
v °rgeladen und zum anderen Objekt mehr¬
facher Hausdurchsuchungen, (siehe SF 41
95) Bei den Vorladungen verweigerten sie
die Aussagen .
Ende November 1995 erreichen uns
6 neue Vorladungen zum Bundesge¬
richtshof. Am 12. und 14. Dezember 95
verhängte der Ermittlungsrichter am
BGH, Beyer, gegen vier unserer Mitbe¬
wohnerinnen jeweils 5 Monate Beuge¬
haft und Ordnungsgelder. Der fünfte
bezog sich auf sein Aussageverwei-
gerungsrecht nach § 52 (Verlobung)
und der sechste Geladene wurde zu
1.000 ,- DM Ordnungsgeld verurteilt
(er ist Vater eines eineinhalbjährigen
Kindes, die Mutter wurde am gleichen
Tag zu 5 Monaten Beugehaft verurteilt).
Conny, Jens, Nik und Petra sind jetzt
für 5 Monate im Knast, weil sie die
Aussagen in einem Verfahren gegen
ihre Mitbewohnerin Andrea verwei¬
gerten. Der Terror der Staatsschützer
hört aber noch lange nicht auf. Der 3.
Hausdurchsuchung folgte die vierte, und
Anfang Dezember 95 die fünfte Haus¬
durchsuchung. Das BKA durchwühlte
auf mündliche Anordnung des Bun¬
desanwaltes Griesbaum schon wieder
alle Wohnungen des Projektes. Ein
neues, mittlerweile das dritte, Ermitt¬
lungsverfahren nach §129a ist eröffnet
worden. Es richtet sich gegen unsere
Mitbewohnerin Andrea wegen Mit¬
gliedschaft in und unseren Mitbewohner
Sven, wegen Unterstützung einer terro¬
ristischen Vereinigung.
Beugehaft und
Aussageverweigerung
Die Bundesanwaltschaft und der Bun¬
desgerichtshof sind für uns keine
neutrale Institutionen, sondern poli¬
tische Verfolgungsbehörden. Ihr Ziel
digteR äußerst gering ist. Der Tenor der
Beschlüsse und Begründungen von
B AW und BGH machte ebenfalls keinen
Unterschied in diesem Sinne. Auch der
angeblich nichtvorhandene Anfangs¬
verdacht gegen Zeuginnen ist bedeu¬
tungslos, denn alle Bewohnerinnen des
Projektes werden als linksextrem ein¬
gestuft und ihnen wird potentiell zuge¬
traut, unterstützend tätig geworden zu
sein oder noch zu werden.
Mit diesem Hintergrund haben 5
Vorgeladene sich zunächst auf den §55
(mögliche Selbstbelastung) berufen. Es
war von vornherein klar, daß dies nur
einen Sinn macht, wenn dieser Para¬
graph auf den gesamten Komplex zu¬
gelassen würde und nicht nur auf
Einzelfragen.
Der BGH hat die Berufung auf den
§55 abgelehnt, unter anderem mit der
Begründung, daß es sich hierbei nur
um ein vorgeschobenes Scheinargument
handele. Die Bewohnerinnen des
Wohnprojektes hätten mehrfach
öffentlich dargelegt, daß sie unter keinen
Umständen bereit seien irgendwelche
Angaben zur Sache zu machen. Da den
“Zeuginnen” der §55 nicht anerkannt
wurde, verweigerten sie die Aussage,
was dazu führte, daß nun 4 davon in
Beugehaft sitzen.
zu den Haftbedingungen:
Conny, Jens, Nik und Petra sitzen in
vier verschiedenen Knästen (in der
Reihenfolge: Bühl, Rastatt, Heimsheim
und Schwäbisch Gemünd). Die gesamte
Post unterliegt der Zensur durch den
BGH, ebenso die Zeitschriften und Ta-
BGH begleitet um auf diese Weise psy¬
chische Unterstützung und Solidarität
zu versichern und die Vorgeladenen in
ihrer Verweigerungshaltung zu bestär¬
ken. Somit sei zu befürchten, daß die
Besuchenden den geplanten Besuch zur
Fortsetzung dieses Verhaltens mi߬
brauchen würden. Dies sei mit dem
Zweck der Erzwingungshaft nicht zu
vereinbaren. Dieses Besuchs verbot gilt
auch für Personen, die nach Angaben
des BGH an der Solidaritätskundgebung
vor dem BGH teilgenommen haben.
Seit Anfang Januar hat die Zustän¬
digkeit innerhalb des BGH sich geän¬
dert.
Es ist jetzt ein neuer Ermittlungs¬
richter zuständig (Herr Woist), Beyer
hat das Verfahren abgegeben. Außer¬
dem sind nunmehr die Knäste direkt für
die Postzensur und die Besuchsanträge
zuständig. Also gehen die Briefe, Pakete
und Besuchsanträge nicht mehr über
den BGH. Wir gehen jedoch davon aus,
daß entsprechende Anweisungen an die
Knäste erteilt wurden. Nichtsdestotrotz
haben sich auch die Haftbedingungen
für die Vier verändert. Inzwischen liegt
eine Besuchsgenehmigung für eine
Person aus dem Wohnprojekt vor, wir
wissen allerdings noch nicht genau, wie
die neuen Bedingungen für die vier sich
insgesamt noch entwickeln werden.
Stand: 18.Januar 1996
Spendenkonto, weils eben teuer ist:
(E.Bauer) Stichwort “Fritze” BFG Ffm
BockenheimBLZ: 50010111 Kontonr:
355 785 39 01
weitere Infos über : Infoladen c/o Cafe
EXZESS Leipzigerstraße 91 60487
Frankfurt/ Main
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ist es, Menschen zu kriminalisieren, in geszeitungen. Besuchsanträge laufen
Unterstützerinnen der
Fritze
Foto: Sabine Streich
D er Widerstand gegen
Atomenergie hat was
von „Schnee von ge¬
stern“.
Seit Harrisburg und Tscher¬
nobyl glaubt kaum jemand
mehr ernsthaft, daß sich die
Atommafia noch einmal breit
machen könnte. In Deutsch¬
land wurde kein neues Akw
mehr in Betrieb genommen.
Seit 1988 wurden Investitio¬
nen von über 15 Milliarden
Mark für kerntechnische
Anlagen vergeigt, u. a. der
Schnelle Brüter in Kalkar
und die Wiederaufbereitungs¬
anlage in Wackersdorf.
Weitere 11 Milliarden Mark
sind derzeit in Kernenergie¬
anlagen gebunden, deren Fer¬
tigstellung bzw. Nutzung
wegen gerichtlicher Ausein¬
andersetzungen oder aus¬
stiegsorientiertem Gesetzes¬
vollzugs einzelner Landes¬
regierungen gefährdet sind.
(Handelsblatt 7.9.95)
Der „Spiegel” schreibt seit
Jahren den Ausstiegswillen
der Energieversorgungsunter¬
nehmen (EVU’s) herbei und
doch droht uns möglicherwei¬
se ein schlechtes Erwachen:
Hardliner aus Politik und
Wirtschaft bereiten ein Come¬
back der Atomenergie vor.
Ob damit die Erfolge aus
20 Jahren Anti-Atom-Bewe-
gung verspielt sind, liegt mit
an unserer Bereitschaft, ihre
Schweinereien wieder auf¬
merksamer zu verfolgen.
Eine kleine Hilfe hierzu soll
dieser Bericht sein, in dem
wir Informationen aus den
letzten 2 Jahren zusammen¬
fassen und versuchen, Ten-
denzen deutlich zu machen.
Auf gehts.
Atomkraftwerke -
eine Bestandsaufnahme
Zur Zeit sind weltweit 432 Akws
Betrieb. An der Atom-Spitze findet
sich weiterhin die USA mit 109
lern am Netz, auch wenn dort seit
Harrisburg {1979) nur ein neuer Re¬
aktor gebaut wird. Den zweiten Platz
belegt Frankreich mit 49 Reaktoren,
es folgen Großbritannien mit 34, Rnß"
land mit 29, Kanada mit 22, Deutsch¬
land mit 21, die Ukraine mit 15 und
Schweden mit 12 Atommeilern. (An¬
gaben taz 9.1.95) Gegenwärtig erzeu¬
gen Atommeiler weltweit knapp ^
Prozent der gesamten Elektrizität-
Die Europäische Union ist davon def
größte Kernenergieproduzent. Si e
deckt 34% ihres Strombedarfs durch
Atomkraft.
[20] SF 1/96
jLili LHU1UL
I
Die Berichte in den Tageszeitungen
beschreiben zwei Tendenzen, Flaute
im Westen, Boom im Osten. Die FR
Z -B. titelte im letzten Jahr: „Im We¬
sten hat die Atomkraft ihren Zenit er¬
reicht” - „Kaum neue Meiler ; aber im¬
mer mehr Stillegungen / Ausbaupläne
in Ost-Europa und Ost-Asien ” Der
Artikel beschreibt die Krise der Reak¬
torhersteller im Westen: In den ver¬
gangenen Jahren ist der Anteil der
Kernenergie zurückgegangen und der
Ausbau des Atomsektors wurde in al¬
ten europäischen Ländern mit Aus¬
nahme von Frankreich sogar ganz
eingestellt. Als Hauptprobleme wer¬
den genannt: mangelnde Akzeptanz
in der Bevölkerung, die ungelöste
Atommüllentsorgung und rapide Ko¬
sten für den Abbruch alter Reaktoren.
« Weltweit werden derzeit nur rund 40
Kernkraftwerke (...) errichtet. Paral¬
lel dazu nimmt die Zahl der stillgeleg¬
ten Reaktoren zu. Insgesamt wurden
bislang 81 Kernreaktoren (...) stillge-
legt, die durchschnittlich weniger als
17 Jahre in Betrieb waren. Der Ab¬
bruch eines alten Reaktors wie in
Greifswald z. B. kostet „mindestens
sechs Milliarden Mark”. Der Artikel
schließt mit der Einschätzung: „Zu¬
mindest in den Indu¬
strieländern setzt sich
die Erkenntnis durch ,
daß die Kernenergie
im Vergleich zu ande¬
ren Energieträgern
nicht mehr konkur¬
renzfähig ist. Sowohl
moderne und effiziente
Kohlekraftwerke als
auch Gaskraftwerke
sind wesentlich kostengünstiger als
Kernkraftwerke. ”
Diese Einschätzung gilt vielleicht
heute für die westlichen Industrielän¬
dern, allein, im östlichen oder ostasia¬
tischen Teil der Erde sieht es anders
aus (Angaben wiederum FR): „Fast
die Hälfte aller Reaktoren , die zur
Zeit geplant und gebaut werden , sol¬
len dort stehen”. Japan baut bei¬
spielsweise zur Zeit sechs Anlagen,
ebensoviele sind es in Südkorea, Chi¬
na hat angekündigt, sechs neue Reak¬
toren zu errichten, Thailand ebenso.
In Indonesien will der amerikanische
Konzern Westinghouse von 1995 an
zwölf neue Atomreaktoren errichten.
Staaten des ehemaligen Ostblocks
(Rußland, Ukraine) widersetzen sich
den Forderungen westlicher Länder,
zwölf ältere und als unsicher geltende
AKWs vom Netz zu nehmen. Die
ukrainische Regierung widerrief so¬
gar die Zusage, die beiden noch im
Betrieb befindlichen Blöcke in
Tschernobyl abzuschalten. Beide
Länder kündigten an, ihre auf Eis lie¬
genden Konstruktionsprogramme
wieder aufzunehmen. Das russische
Ministerium für Atomenergie plant,
den Anteil der Kernenergie an der
Stromerzeugung von derzeit zwölf auf
30 Prozent zu steigern.'
Große Hoffnungen setzt die Atomlob¬
by auf den boomenden Markt in Chi¬
na, eines der Länder mit dem stärk¬
sten Wirtschaftswachstum. Bis zum
Jahr 2015 erwartet die chinesische
Regierung eine Verdreifachung des
Strombedarfs auf 2.480 Terawatt-
stunden (eine Terrawattstunde ent¬
spricht 1000 Milliarden' Kilowatt¬
stunden!). Drei Milliarden Tonnen
Kohle müßten dafür verbrannt wer¬
den. Aus „Umweltschutzgründen”
will China darum auf die. Atomkraft
setzen, (taz, 8. 9. 94)
Atomindustrie in Wartestellung
Zurück ins Inland. Auf den ersten
Blick sieht es für die Atombetreiber
nicht gut aus.
Hohe fehlgeschlagene Investitionsko¬
sten (Hochtemperaturreaktor, WAA
Wackersdorf, Schneller Brüter); kein
kalkulierbarer Entsorgungsnachweis;
hohe Sicherheitsanf orderungen an
Atommeiler; keine Akzeptanz in der
Bevölkerung; kein Bedarf für neue
Atommeiler wegen Stromüb erkapa-
zitäten; (noch) kein akzeptabler kon¬
kurrenzfähiger Reaktortyp...
Die Atomgemeinde hält sich von da¬
her zurück und auf der öffentlichen
Bühne wird mit vertauschten Rollen
gespielt: statt der EVU’s prescht die
atomgeile Bundesregierung vor. Sie
drängt die EVU’s endlich die konkrete
Option (Absicht) zuzusagen - auf den
Bau eines neuen Reaktors an einem
bestimmten Standort in fünf Jahren.
Gemeint ist ein von Siemens und der
französischen Firma Framatone gera¬
de in der Entwicklung stehender Re¬
aktortyp EPR, der etwa ab Jahr 2005
weltweit angeboten werden soll.
Ein roter Teppich für die Stromgiganten
Die Strommanager der EVUs „zie¬
ren” sich und fordern günstigere Rah¬
menbedingungen:
SF 1/96 [21]
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„Ob sich die Branche für ein Atom¬
kraftwerk entscheidet oder nicht ; ma¬
chen Stromvorständler wie Ulrich
Hartmann (Veba) oder Dietmar Kuhnt
(RWE) von drei Bedingungen abhän-
Qig:
- Es sollte breite gesellschaftliche
Übereinstimmung herrschen, vor
allem: keine „Obstruktionspolitik”
rotgrüner Landesregierungen ge¬
gen neue Projekte.
~ Es muß ein Bedarf für neue
Strommeiler vorhanden sein.
~ Auch unter den teuren Sicherheits¬
anforderungen des geänderten
Atomgesetzes müssen sich die neu¬
en Reaktoren im Verhältnis zu
Kohlekraftwerken rechnen.” (Spie¬
gel 29. 5. 95)
Zum Interesse der EVU’s ergänzend
die Aussagen desselben RWE-Vor-
ständlers Kuhnt im Handelsblatt vom
7. 9. 95:
„Kuhnt ist davon überzeugt, daß
deutsche Reaktoren verantwortungs¬
voll genutzt werden und die Kern-
kraß eine ' Zukunßstechnologie* mit
Vorsorgefunktion für den Positions¬
standort Deutschland darstellt. Und
darüber hinaus bleibt für den RWE-
Chef maßgeblich: 1 Unsere Kernkraft¬
werke erfüllen weltweit vorbildliche
Sicherheitsstandards. Wer sich unter
nationalen Ge¬
sichtspunkten
von der Kernen¬
ergie verabschie¬
den will, begibt
sich zugleich der
Möglichkeiten
zur positiven Be¬
einflussung der
zukünftigen Be-
einflussung der zukünftigen Sicher¬
heitsanforderungen in der Kernener¬
gie oder aktiven Hilfe bei osteuropäi¬
schen Anlagen.’ ‘In der deutschen
kerntechnischen Entwicklung . dürfe
kein Fadenriß entstehen. Auch wenn
kurzfristig kein Bedarf für neue Anla¬
gen existiere, müsse weiter geforscht
werden. Im Jahr 2005 sei zu untersu¬
chen, inwieweit der neu konzipierte
deutsch-französische Gemeinschafts¬
reaktor unter wirtschaftlichen und si¬
cherheitstechnischen Anforderungen
für die Stromversorgung hinzugezo¬
gen werden solle. Das Thema Nummer
eins in der energiepolitischen Kon¬
sensfindung sei jetzt, dafür zu sorgen,
daß technische Entsorgungsmöglich¬
keiten politisch auch
wahrgenommen werden
könnten. Die Standort¬
prüfung eines Endla¬
gers in Gorleben sei so
lange weiterzuverfol¬
gen, wie keine gleich¬
wertige Option staatli-
cherseits für Prüfungen
freigegeben werde. Im
übrigen wiesen alle bis¬
herigen Resultate dar¬
auf hin, daß Gorleben
den sicherheitstechni¬
schen Ansprüchen
genügen könne, erklär¬
te Kuhnt.
Ein Thema für energie¬
politische Weichenstel¬
lungen dürfe gleichfalls
nicht kleingeschrieben
werden, nämlich die
Voraussetzungen für ei¬
nen politisch ungestör¬
ten Betrieb der Kern¬
kraftwerke endlich zu
schaffen.”
Hier wird es interes¬
sant, weil die Hardliner
in der Bundesregierung
seit einigen Monaten
dabei sind, die geforderten „energie¬
politischen Weichenstellungen” zu
setzen.
„Nach Paragraph 7 des neuen Atom¬
gesetzes können Reaktoren nur noch
genehmigt werden, wenn sich die Fol¬
gen einer Kernschmelz-Katastrophe
wie Tschernobyl durch die neuartige
Konstruktion auf die Atomanlage be¬
grenzen lassen. Die Anlage müsse so
ausgelegt sein, hatten Töpfer und
Schröder festgelegt, daß ein Kem-
schmelzunfall nur einmal in einer
Million Jahren passieren dürfe und
daß, wenn er doch eintritt, 99 von
100 Kernschmelzen ohne Opfer be¬
herrschbar sein müßten. Schon da¬
mals bemerkte Adolf Hüttl, Siemens-
Vorstandsmitglied für Kernkraftwer¬
ke: 1 Dann bauen wir nicht.* ”
(Spiegel 10. 4. 95)
Dazu am gleichen Tag in der Frankf 11
ter Rundschau: „Merkel dreht an
AKW-Standards - Umweltminis t^ 11
will Vorgaben Töpfers unterbieten -
„Im Umweltministerium gibt es (Jb cT
legungen die Sicherheitsstandards j^
künftige Atomkraftwerke neu zu re
geln. (...) Diese neuen Eckwerte u)ii r
den (...) niedriger liegen...”
Entsorgungsnachweis „entsorgen”
Seit dem Aus für die deutsche
war La Hague - neben der Anlage i** 1
britischen Sellafield - die einzig
Möglichkeit für die deutsche Atom
Wirtschaft, den Nachweis der Entso*
gungsvorsorge zu erbringen. Ohne ih n
hätten alle Atommeiler abgeschaltet
werden müssen. Schon seit langem i st
der Zwang einen „Nachweis für die
EntsorgungsVorsorge” des anf allem
den Atommülls zu erbringen für die
Atombetreiber ein lästiger Klotz am
Bein. Jede Variante, sich dieses Prm
blems zu entledigen, hat einen Pferde'
fuß. Deshalb tanzen die EVU’s auf
verschiedenen Hochzeiten:
Direkte Enttagerung
Seit Mai 1994 wurde mit dem söge'
nannten Artikelgesetz auch die direk-
Wie der Weg in
eine neue Atom¬
reaktorgeneration
gebahnt wird
Sicherheits¬
anforderungen
werden aufgeweicht
S.F 1/96
te Entsorgung als Entsorgungsnach¬
weis anerkannt. Seitdem stellt sich
für die Stromunternehmen die Frage,
welchen Weg sie in Zukunft beschrei¬
fen sollen: Wiederaufbereitung oder
Endlagerung? Rein wirtschaftlich ist
die Sache klar: Die direkte Endlage-
ri *ng ist viel billiger. (2000 DM pro Ki¬
logramm Kernbrennstoff) Doch dafür
fehlt noch das Endlager. In Gorleben
wird zwar der Salzstock weiter „er¬
kundet”, aber die Rechte an dem
Salzstock liegen beim Anti-AKW-
Grafen Bernstorff. Wenn das vom
Sund eingeleitete Enteignungsverfah-
r en erfolglos bleibt, droht diesem Pro¬
jekt spätestens 1998 das Aus. Damit
stände auch der Entsorgungsnach¬
weis wieder auf wackligen Füßen.
(Angaben „Die Woche” 4. 8. 95)
Wiederaufarbeitung in La Hague
E>ie andere Schiene wäre bei der Wie¬
deraufarbeitung in La Hague zu blei¬
ben. Diese ist in zwei Kontrakten
festgehalten (Alt- und Neuverträge).
Eas sind Verpflichtungen über das
Jahr 2000 hinaus mit erheblichen Ab¬
hängigkeiten: kündbar nur unter
ziemlich kostenträchtigen Bedingun¬
gen (1,2 Mrd. DM). Im letzten Jahr lie¬
ferten sich die deutschen Atombetrei¬
ber einen Verhandlungspoker mit der
französischen Cogema (der Betreibe¬
rin von La Hague). Sie wollten aus
den finanziell für sie sehr ungünsti¬
gen Altverträgen raus, sich anderer¬
seits jedoch den Entsorgungsweg über
La Hague offenhalten. Das der Ca-
stor-Transport gerade in diese Ver¬
handlungsphase fiel, ist kein Zufall -
stärkte es doch erheblich die Ver¬
handlungsposition der deutschen
Atom-Betreiber, die damit zeigen
konnten, daß sie zur Not ihren Ent-
letztlich geeinigt haben, ist uns nicht
bekannt. „Die Woche” vom 4. 8. 95
kommt zu folgender Einschätzung:
Die Franzosen andererseits erweisen
sie jetzt selbst die langfristige Zwi¬
schenlagerung ohne Wiederaußerei-
tung an, samt späteren Rücktransport
der Brennelemente in endlagergerech¬
ter Verpackung. Da die reine Lage¬
rung ausländischen Strahlenmülls
aber nach französischem Abfallrecht
verboten ist, verbindet Cogema diesen
Vorschlag mit (dem Trick) der Pro-
forma-Option zur Wiederaufarbei¬
tung.
Das läßt die deutschen Atom-Mana¬
ger aufhorchen. Denn mit dieser Vari¬
ante könnten mehrere atompolitische
Fliegen mit einer Klappe geschlagen
werden: Die protestträchtigen Castor-
Transporte nach Gorleben ließen sich
eine Zeitlang umgehen , der Bau wei¬
terer Zwischenlager in Deutschland
wäre vom Tisch und der Ausstieg aus
der Plutoniumwirtschaft ohne politi¬
sche Risiken machbar. Darum neigen
die Stromkonzerne derzeit dazu, sich
auch in Zukunft den Entsorgung sw eg
über La Hague offenzuhalten. Der
Verhandlungspoker mit der Cogema
dreht sich im wesentlichen nur noch
um den Preis. ”
Gesetzliche Abschwächung des
Entsorgungszwangs
Die Bundesregierung dreht derweil an
einer anderen Schraube.
„In einem internen Papier mit dem
Titel Position zur weiteren Entwick¬
lung der friedlichen Nutzung der
einem Entsorgungskonsens . abzukop-
'peln.” (FR 19. 4. 95) Im Klartext geht
es in diesem Strategiepapier um ver¬
schiedene Varianten, wie Atommüll
weiter produziert werden darf, ohne
den lästigen Nachweis erbringen zu
müssen, daß er letztendlich auch si¬
cher entsorgt werden kann. Im Papier
heißt es weiter: Als Fortschritt be¬
zeichnen sie, „wenn es im Konsenswe¬
ge gelänge , die Entsorgungsfrage poli¬
tisch vom Weiterbetrieb der Kern¬
kraftwerke abzukoppeln, also zu ei¬
nem Entsorgungskonsens auch dann
zu kommen , wenn es keinen Konsens
Über die weitere Kernenergienutzung
gibt”.
„Kompromisse halten die Experten
bei der Zwischenlagerung der hoch¬
giftigen abgebrannten Brennelemente
für möglich. Für die laut dem Atom¬
gesetz jetzt mögliche direkte Endlage¬
rung sei ohnehin eine „Abklingzeit”
von etwa 40 Jahren zweckmäßig.
Überdies habe die langfristige Zwi¬
schenlagerung den Vorteil, daß die
Entscheidung über Endlagerung oder
Wiederaufarbeitung erst später getrof¬
fen werden müsse. Die Erkundung des
Salzstocks Gorleben als mögliches
Atommüllendlager will das Bundes¬
umweltministerium nicht auf geben. ”
(...) „Um der SPD und insbesondere
Niedersachsen bei dem Wunsch nach
einer gerechteren Verteilung der La¬
sten entgegenzukommen, könne eine
Regionalisierung der Zwischenlage¬
rung angeboten werden, so daß das
Zwischenlager Ahaus für den west¬
deutschen Raum, Gorleben für Nord¬
deutschland, Greifswald für Ost¬
deutschland und ein noch zu errich¬
tendes Zwischenlager in Süddeutsch¬
land zur Verfügung stünden.”
SF 1/96 [23]
sorgungsnachweis auch mit dem Poli¬
zeiknüppel durchgesetzt bekommen.
Worauf sich Deutsche und Franzosen Kernenergie’ schlagen die Experten
vor, die Diskussion über die weitere
Nutzung von Atomkraftwerken von
ben genannt, sollte das westdeutsche spricht (wohl eher, weil eine Standort-
Endlager ausfallen.” (Angaben wie- unabhängige Entscheidung quasi ei-
derum Spiegel 1. 1. 96)
SPD-Schröder (Niedersachsen) wür¬
de bei dieser Variante mitspielen:
„Künftig soll die Entsorgungspflicht
der EVU bereits erfüllt sein, so Schrö¬
der, ‘wenn sie eine ordnungsgemäße
vorausschauend sichere Zwischenla¬
gerung des Atommülls betreiben / ”
(Spiegel vom 29. 5. 95)
Das neue „Mekka“ für die Atomindustrie:
Atomland Ost
Die Essener Gesellschaft für Nuklear-
Service (GNS) „errichtete bereits das
„Zwischenlager Nord”, dicht am
Kraftwerkskomplex Greifswald gele¬
gen. Die Hallen sollen im Endausbau
200 000 Kubikmeter Fassungsvermö¬
gen haben - genug, um den gesamten
Atommüll der 19 deutschen Meiler
aufnehmen zu können. Noch steht die¬
ses ostdeutsche Gorleben leer, doch
schon Anfang dieses Jahres soll laut
Genehmigungsantrag der erste Atom¬
schrott anrollen.” (Spiegel 1. 1. 96)
Alternative Endlagerstätten
Auch für den Fall, daß die Wendlän¬
der sich weiter wacker wehren, sorgt
die Bundesregierung bereits vor:
„Umweltministerin Merkel hat von
der Bundesanstalt für Geowissen¬
schaften und Rohstoffe bereits alle po¬
tentiellen Gest einsformationen für
Atommüll-Lager erkunden lassen -
vom Erzgebirge bis zum norddeut¬
schen Elbufer.” (...) Im Einzelnen:
„Als neue Endlagerstätte erkunden
die Behörden derzeit den brandenbur-
gischen Teil des Salzstocks von Gorle¬
ben und das benachbarte Gülze-Sum¬
te. Auch das Fichtelgebirge und die-
Halle-Wittenberger Scholle gelten als
untersuchungswürdig. Das Bundes¬
umweltministerium hat schon im
sachsen-anhaltinischen Waddekath
einen Salzstock als Ersatz für Gorle-
Ungestörter Weiterbetrieb
bestehender Meiler
Erinnert ihr euch noch an die Zeit, als
die SPD alle Atomkraftwerke inner¬
halb von 10 Jahren stillegen wollte?
Mittlerweile liest sich das so: Die
Atomgemeinde „wollen die am Netz
hängenden Atommeiler ungestört von
rot-grün geführten Regierungen be¬
treiben, möglichst noch jahrelang.
Dafür wären sie sogar bereit, über
Restlaufzeiten zu verhandeln. Die
Branche denkt an 40 Jahre, Schröder
wäre bereit, 30 zuzugestehen.”
(Spiegel 29. 5. 95)
Option auf einen neuen Reaktor
H s ren wir uns einmal Frau Merkel an:
„Be. der Frage des Neubaus von
Kernkraftwerken besteht heute kein
konkreter Entscheidungsbedarf. Al¬
lerdings weiß jeder, daß die Forschung
und Entwicklung kontinuierlich wei¬
tergeführt werden muß, damit in zehn
Jahren eine konkrete Bauentschei¬
dung für einen neuen Reaktortyp ge¬
fällt werden kann. Dies schließt ein
standortunabhängiges Genehmi¬
gungsverfahren ein, um sicherzustel¬
len, daß ein solch neuentwickelter Re¬
aktor auch den gesetzlich festge¬
schriebenen Sicherheitskriterien ent-
Unterhöhlte Zufahrtsstraßen zum
Zwischenlager Gorleben
nem pauschalen Freibrief für diesen
Reaktortyp gleichkäme. Das heißt, i st
ein Reaktor erstmal genehmigt, falle 11
weitere langwierige Einspruchs ver"
fahren weg. d. Verf.) Deshalb ist heute
mehr notwendig als lediglich die poh
tische Entscheidung, Forschung un
Entwicklung fortzuführen. Über R es *
laufzeiten bestehender Kernkraftuier
ke kann nur zum Zeitpunkt konkreter
Bauentscheidungen gesprochen uiei
den, ebenso über die Ausgestaltung
der politischen Entscheidung■ Auch
sollten uns die Exporterfolge d er
Franzosen im südostasiatischen Rann 1
und die Anstrengungen der Amerika
ner in Osteuropa zu denken geben. In
einigen Jahren wird der Erneuerung s
prozeß der weltweit rund 400 Ke? n
kraftwerke beginnen. Wir t sollte
dann deutsche Technologie anbieten
können, beispielsweise den gernein
sam mit Frankreich entwickelten R u
ropean Pressurized Water Reactor
(EPR), der ein weltweit bisher uner
reichtes Sicherheitsniveau , haben
wird. ” 1
(FR vom 19. 6. 95)
Rührend, wie sich Frau Merkel für & e
deutsche Industrie einsetzt; nlC ^
wahr? Aber schließlich geht es um di e
Stellung der Deutschen Industrie b el
einem gigantischen Investitionsvolu
men für die Erneuerung der 40
Kernkraftwerke...
Die SPD-
wie immer ein
Wackelpudding
Seit einiger Zeit la u
fen zwischen Wertre
tem aller Parteien»
Gewerkschaften un
Wirtschaftsbossen
sogenannte „Ener¬
giekonsensgespräche“. Diese & e
spräche sollen eine „breite ; gese
schaftliche Übereinkunft“ über die
zukünftige Energieversorgung
Deutschland herstellen, also auc
über die Frage zukünftiger Atom¬
kraftwerke, weil auch die Strönikon
zeme ohne diese Zustimmung angeb
lieh nicht neue AKW’s in Auftrag g e
ben wollen. Die Energiekonsensge¬
spräche sind das letzte Mal im Mai 95
noch an diesem Punkt - der Option
auf einen neuen Reaktor — gescheitert-
Allerdings knapp. Schröder hätte
möglicherweise auch an diesem Punkt
[24] SF 1/96
2 ugestimmt, wäre er nicht von seinem
Parteichef Scharping zurückgepfiffen
w orden (schließlich besteht zuminde-
stens formal noch der 1986 gefällte
Ausstiegsbeschluß): „ SPD- Verhand¬
lungsführer Schröder hatte nach An¬
gaben des Nachrichtenmagazins Der
Spiegel in einem Brief an SPD-Chef
Rudolf Scharping mit seinem Ausstieg
aus Ren Konsensgesprächen gedroht,
sollte seine Partei die von ihm ange-
botene Kompromißlinie nicht unter¬
stützen, nach der für die bestehenden
Reaktoren im Atomgesetz Restlaufzei-
ten festgeschrieben werden sollen und
die SPD im Gegenzug einem stand-
0r tunabhängigen Genehmigungsver¬
fahren für einen neuen deutsch-fran-
z dsischen Reaktortyp zustimmen
Küßte.” (FR 19. Juni 95)
Aber wer traut schon der SPD? Aus¬
stieg. Ausstieg innerhalb von 10 Jah-
ren - Ausstieg innerhalb von 30 Jah-
ren * Genehmigungsverfahren für ei-
Uen neuen Reaktor - ist doch alles das
gleiche...
Garching II
In Garching bei München baut Sie-
Kens für die TU München einen
ueuen Forschungsreaktor.
P>er Atommeiler soll ausschließlich
frfrt hochangereichertem Uran be¬
trieben werden. Für welche „fried¬
lichen Zwecke” atombombenfähi¬
ges Uran in den Brennelementen ge¬
braucht wird, bleibt offen. Fakt ist,
die BRD will das Uran auä Rußland
kaufen. Dies wird aber nur mit Zu¬
stimmung der Euratom, der eu¬
ropäischen Atomgemeinschaft mög¬
lich sein. Dort haben die USA ein
Wörtchen mitzureden. Seit 1992
versucht jedoch die Bundesregie-
r frfrg in Verhandlungen über eine
Vertragsverlängerung von Euratom,
das Mit spracherecht der USA zu
beenden, dies sei „politisch und
technisch nicht länger akzeptabel”,
so der bundesdeutsche Verhand¬
lungsleiter Wilhelm Gmelin. Die
Deutschen wollen ohne ausländi¬
sche Kontrolle mit waffenfähigem
Uran forschen. Für eine deutsche
Atombombe?
Die Offensive beginnt
Nachdem dieser Artikel bereits fertig
war, erschien am 1. 1. 96 ein Bericht
im „Spiegel”, der ein Abweichen von
der bisher vorsichtigeren Linie an¬
deutet. Die Atommafia geht in die Of¬
fensive.
„Wir wollen den Reaktor
Der„EPR“undder„lter“
„Eine große Koalition aus Sozialde¬
mokraten und Bundesregierung will
Ostdeutschland zu Europas führender
Atomtechnologieregion aufrüsten: ein
Fusionsreaktor soll nach Mecklen¬
burg-Vorpommern, schon in Kürze ge¬
hen dort das europaweit größte Zwi¬
schenlager für Atommüll in Betrieb,
etliche Endlagerstätten werden er-
kündet. ”
Schwerins stellvertretender Minister-
Präsident und SPD -Wirtschaftsmini¬
ster Harald Ringstorff und Reaktor¬
ministerin Merkel forcieren einen
neuen Reaktortyp „Iter”. „Das Kürzel
steht für Internationaler Thermonu¬
klearer Experimenteller Reaktor. An¬
ders als bei der Kernspaltung soll in
dem hochmodernen Experimentier¬
kraftwerk Energie durch Kernver¬
schmelzung gewonnen werden. Für
diesen Reaktor, dessen Funktionswei¬
se bereits in mehreren Pilotprojekten
weltweit getestet wird, wollen 20 In¬
dustriestaaten zwölf Milliarden Mark
bereitstellen. Im nächsten Jahrtau¬
send soll mit dem Bau begonnen wer¬
den - nur ist noch offen, wo. Um das
Kraftwerk konkurrieren die Vereinig¬
ten Staaten, Japan, Rußland, und
auch die EU ist derzeit auf Standort¬
suche. Deutschland ist dabei ein ‘lea-
ding candidate > (Naturej” (...) „In der
Tat kann die CDU/SPD-Koalition in
Schwerin im internationalen Wettbe¬
werb ein DDR-Erbe nutzen: In Greifs¬
wald stehen bereits fünf konventionel¬
le Atom-Meiler sowjetischer Bauart ”
(...) „Der Kraftwerkskomplex ist mit
über 280 Hektar Fläche größer als die
vier West-Meiler Brokdorf, Biblis,
Stade und Philippsburg zusammen.
Für den künftigen Fusionsreaktor, so
wirbt das Land in einem Ministeri¬
umspapier, stünden schon Wasserka¬
nal, Kühltürme, Überwachungssyste¬
me, Zwischenlager* sowie eine ‘ gro߬
dimensionierte Feuerlöschanlage 9 be¬
reit. Selbst der Widerstand der Um¬
weltschützer scheint kalkulierbar. Der
Iter-Experte Udo Janssen, langjähri¬
ger Sprecher des norddeutschen Ener¬
giekonzerns Preussen-Elektra und
vorübergehend Berater des Schweri¬
ner Wirtschaftsministeriums, erfuhr
bei einer Ortsbegehung von einem
amtlichen Naturparkschützer: Die
Landschaft ist hier schon so versaut,
da könnt ihr den hinbauen. Mit uns
geht das* “.
(Zitate alle aus Spiegel 1. 1. 96)
Wir wollen hier nicht alles aufführen.
Der Artikel ist lohnenswert und wenn
ihr wissen wollt, woher der Wind
weht, holt ihn euch einfach...
Die neue Qualität, die in ihm ange¬
deutet wird, ist das Hand in Hand von
SPD und CDU, die in selten deutli¬
cher Einmütigkeit agieren und von
daher ein Umfallen der SPD auch im
gesamten Atomkurs realistischer ma¬
chen. Und, das von den Schweinchen
das Ganze selbst von bisher langfri¬
stiger Planung in die nahe Zukunft
geholt wird: Erstmals wird in diesem
Artikel erwähnt, daß der „geplante
Baubeginn” für den EPR-Reaktortyp
schon „das Jahr 1999” sein soll, (ihr
erinnert euch: der oben erwähnte von
Siemens und Framatone geplante
neue „Sicherheitsreaktor“, der ur¬
sprünglich erst frühestens ab Jahr
2005 in Angriff genommen werden
sollte)
Dennoch: Die Energieversorgungsun-
temehmen (als spätere Auftraggeber)
haben keine Eile. Sie lassen sich gün¬
stigere Rahmenbegingungen servie¬
ren, bevor sie in einen offenen Kon¬
flikt einsteigen. Derweil steigen sie
mit Milliardengewinnen in ihre bishe¬
rige und in neue Branchen ein:
Der große Reibbach der EVU’s
mit dem Strom
1990 handelten die große Drei (RWE,
Veba und Viag/Bayernwerk) mit der
damaligen DDR-Regierung den soge¬
nannten Stromvertrag aus und über¬
nahmen damit für die gesamte DDR-
Stromindustrie die Geschäftsführung.
SF 1/96 [25j
Da sie damit bis 1991 die Strompreise
auf westdeutsches Niveau steigern
konnten, ließen sie sich praktisch
durch die ostdeutschen Bürgerinnen
den Verkauf ihrer eigenen Stromindu¬
strie in vier Jahren bezahlen. Der
Atomstrom hat „den Konzernen eine
weitere phantastische Geldquelle er¬
schlossen: den Atommüll Was ge¬
meinhin als das größte Problem der
Atomkraft gilt , die ungelöste 'Entsor¬
gungsfrage, verwandelt sich in den
Bilanzen von RWE, Veba und Viag in
eine schier unerschöpfliche Kasse.
Das Zauberwort für die atomgetriebe¬
ne Geldvermehrung heißt Rückstel¬
lung. Weil niemand genau weiß, wie
teuer das endgültige Atommüllgrab
und vor allem der spätere Abriß der
verstrahlten Atomzentralen werden,
langen deren Betreiber per Strom¬
rechnung schon vorab kräftig zu. ” Am
Beispiel des AKW Brokdorf: „Dort
kassiert die Betreibergesellschaft un¬
ter Führung der Veba mit amtlicher
Genehmigung allein für den späteren
Abriß 1,88 Pfennig pro Kilowattstun¬
de und sammelt so in 20 Jahren rund
3,75 Milliarden Mark ein - fast soviel
wie die ursprünglichen Baukosten.
(...) „Insgesamt besorgten sich die
Atomkraft-EVU auf diese Weise Steu¬
er- und zinsfrei bis heute schon rund
40 Milliarden Mark, mit denen sie
kaufen können, was sie wollen. Ob
und wann das Atomgeld in dieser
Höhe wirklich gebraucht wird, muß
sie nicht kümmern. Die Frage stellt
sich erst Jahrzehnte später.” (Zitate
aus Spiegel 46/95)
Einstieg in Zukunftsbranchen
„Die Stromfürsten dehnen unterdes¬
sen ihr Reich in immer neue Branchen
aus. Längst ist es nicht mehr möglich,
auch nur einen Tag in Deutschland zu
verbringen, ohne einem der Energie¬
konzerne auch ausserhalb der Strom¬
rechnung Tribut zahlen zu müssen.
Die Stromer, die fleißig Firmengrup¬
pen zusammenkaufen, sind
vor allem auf eines aus: auf
In der Abfallwirtschaft ha- '
ben Firmen wie die RWE- ' ( 'WR
Töchter Trienekens und R .. ?.<■ Sp
Westab schon rund ein p*s-„ - • : . f
Viertel des Marktes im ..
Gri ff- Eifrig bauen sie als
Generalentsorger für ganze ]
Regionen neue Monopole * ; !C
Über Kredite und Posten Übernahmen
sie auch die Regie beim ‘Dualen Sy¬
stem’für Verpackungsmüll. Schon et¬
wa die Hälfte der jährlich vier Milli¬
arden Gebühren für den Grünen
Punkt landen in den Kassen der Stro¬
mer. Auf der Gegenseite, bei den Müll¬
erzeugern, beherrscht die Münchner
Viag/Bayernwerk-Gruppe mit Dut¬
zenden Unternehmen den Markt für
Verpackungen aller Art, von der Pet-
lasche bis zu Aluminiumdose.
Strategisch bauen die Energieversor¬
ger auch ihre Beteiligung in der Was¬
serwirtschaft aus, wo erneut große
Monopolgewinne winken. (...)
Alle gemeinsam rüsten für die Erobe¬
rung des Telefonmarktes ab 1998.
Auch das dann aufgelöste Staatsmo-
nopol droht nun in die Hände eines
nicht minder teuren privaten Oligo¬
polszu fallen. So bringt die kleine
Elektrizitäts-Elite einen immer größe¬
ren Teil des Sozialprodukts unter ihre
Kontrolle. ‘Die Monopole der Strom-
konzerne’, warnt Dieter Wolf, PTäsi-
dent des Bundeskartellamts,
enorm schädlich für die Volkswirt',
schaft /” i
Soweit der Spiegel, dem wir hier mal
recht geben müssen.
Und wir?
Nach diesem kleinen Rundunaschlag
wollen wir aufhören, euch mit weite
ren Einzelheiten zu bombardieren.
Interessanter finden wir die Frage, ob
wir Linksradikale die Entwicklung
dieser gigantische Maschinerie ig n °
rieren und damit - so meinen wir ] e
denfalls - auch die Erfolge aus
Jahren Anti-AKW-Bewegung verspi^
len. Wir wollen Euch keinen konkre
ten Handlungsvorschlag mitlief ern ‘
Der Widerstand z. B. gegen den ersten
Castortransport nach Gorlelhen b a
gezeigt, daß die Anti-AtormBeWC"
gung sich zu wehren weiß. Weitet
Transporte werden folgen und
Vorbereitungen für einen noch teure
ren Einsatz sind im Gange. Unse* e
Frage lautet eher: warum immer wa r
ten, bis die anderen kommen?;
Es gibt viele Möglichkeiten, bffensi v
zu werden.- wir sollten sie nutzen-* •
Einige Autonom
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Begegnungen mit den
Ältesten Simbabwes
von llija Trojanow
Alle Folos: llija Trojanow
Rund fünfhundert Jahre nachdem Vascb
da Gamas Afrika umsegelte, und somit
als erster das ganze Profil unseres süd¬
lichen Nachbams gewahr wurde, glau¬
ben die meisten Europäer, das traditio¬
nelle Afrika sei untergegangen, oder
kurz davor, in der Konfrontation mit
einem viel stärkeren, sprich unserem,
System unterzugehen. Ob Staats- oder
Erziehungswesen, ob Kleidung oder
Technik, die europäische Zivilisation
scheint sich gänzlich durchgesetzt zu
haben. Ein fragwürdiger Erfolg. Die
katastrophalen Folgen werden allge¬
mein beklagt, doch Abhilfe verspricht
man sich wiederum von Exporten un¬
serer Kultur, Allheilmittel, die seit
Jahrzehnten der ganzen Welt angeprie¬
sen werden: Investitionen, Marktwirt¬
schaft, parlamentarische Demokratie.
Noch trägt Afrika seine Vergan¬
genheit in sich, noch könnten wir die
kulturelle Einbahnstraße von Nord nach
Süd verlassen. Und noch verhalten sich
viele Afrikaner anders, als wir aus dem
Norden es erwarten. Angesichts der
überwältigenden Technik der fremden
Eroberer hat sich Afrikas Widerstand
im Laufe der Zeit zunehmend auf stille
Verweigerungreduziert. DieBeziehung
war bislang von gegenseitiger Täu¬
schung geprägt: Die Europäer gaben
vor, Gutes zu bringen, und die Afrikaner
gaben vor, es anzunehmen. Europäi¬
sches Drängen stößt weiterhin auf afri¬
kanische Resistenz, in keinem Bereich
mehr als im Geistigen. Wer von der
Missionierung Afrikas spricht, über¬
sieht, daß die meisten Besucher sonn¬
täglicher Gottesdienste die Verbindung
zu den Ahnen, zu traditionellen Ritualen
aufrechterhalten. Unabhängige afrika¬
nische Kirchen lassen das Traditonelle
und das Christliche gleichberechtigt
nebeneinander bestehen-dieZahl ihrer
Mitglieder steigt. Das Althergebrachte
hat mehr Ausdauer, als von vielen ver¬
mutet. Es gibt Werte, schrieb Frantz
Fanon in seinem Buch Schwarze Haut
Weiße Masken, die sich der Herrschaft
der Weißen nicht fügen. Diese Werte
leben weiter, vor allem in den Alten und
Ältesten.
Um sie kennenzulemen reisten der
simbabwische Autor Chenjerai Hove
und ich letztes Jahr durch die Dörfer
seines Landes und verbrachten Stunden
oder Tage mit weisen alten Frauen und
Männern. Wir stellten Fragen, hörten
ihnen zu, weil wir davon ausgehen, daß
man von Afrika noch etwas lernen kann.
“Wir bitten sie, unser zu gedenken, und
so erinnern wir uns auch an sie, und
ehren sie”, beschreibt einer der Ältesten
das Verhältnis zu seine Ahnen. “Heute
sind die Stimmen tot, denn keiner hört
ihnen zu”, sagt eine der Frauen. Leben
entsteht immer aus wechselseitigen
Beziehungen. Die Beschwörung er¬
weckt den Beschworenen zum Leben,
und der Zuhörer gebärt den Redenden.
Die Gegenseitigkeit müßte für die Be¬
ziehungen zwischen Europa und Afrika
gelten. Nur wenn wir die Gedanken und
Gefühle Afrikas mit ihrer ganzen
Fremdheit wahmehmen, und diesen
Kulturen helfen, sich an die technische
Moderne anzupassen, ohne sich selbst
zu verlieren, kann dieser vernachlässigte
und geschundene Kontinent wieder zu
seiner ganzen Lebensfähigkeit finden.
is ta»
iiSiiil«!«
■Hm
Vereinsamung, Materialismus, b
Süd-Gefälle - scheinen sich als
accompli zu etablieren, im Haup
benannt und im Nebensatz, mit R,
nation oder Achselzucken, abgetan
Denken und Handeln, als gäbe e
die Menschheit nur eine Geburt
seien wir nicht Zeugen der Vergan
heit, nicht Akteure der Zukunft
verstehen unsere Väter und Vor
immerweniger, und mißverstehend
auch uns selbst, unseren Instinkt Ur
Erinnerung (die gelebte, nicht die
dem ische) leidet an Magersucht
Anbeginn der Moderne beklagen
schwören und besingen wir, daß
Natur und die Menschen sich nicht r
viel zu sagen haben.
Die Worte der Ältesten vermi
etwas von der Kraft und dem Za
einer Verwurzelung in der Natur
fuhren uns in unsere Vergangenhei
ruck. Viele Menschen sind schwa
sagt der Dichter Aime Cesaire “
sie nicht wissen, wie man zu Stein v
zu Baum.” Wahrscheinlich werder
Europäer diese Fähigkeit nicht wie
erlangen, aber sie könnten zumindest
ihre Begrenztheit erkennen, und etwas
Demut lernen. Denn in den robotro-
nisierten Welten, die wir gerade übe 1 "
den ganzen Globus spannen und ver¬
netzen, bietet die geistige Welt Afrikas
noch einen der Horte von Menschlich¬
keit. j
Das Land um Chief Kaisa Ndiwenis
Haus herum ist kahl. Die Hügel gähnen
vor Erschöpfung. Man kann in dieser
Gegend fast nicht von Vegetation sprc'
chen. Chief Ndiweni, traditioneller
Führer in dem Gebiet östlich der mo¬
dernen Stadt Bulawayo, scheint voller
Schmerzen zu sein, so wie alles andere
auch, so wie die Menschen um ihn
herum, die verzweifeln und trauern.
Selbst Vögel und Tiere haben das Land
verlassen, vor vielen Jahreszeiten der
Dürre. Nur der braune Staub erzählt
den Füßen, daß einst Leben auf diesem
Boden wuchs. Alles andere wiederholt
nur das Elend der kahlen Erde und des
einsamen Himmels.
78 Jahre alt und gebrechlich wie sein
Land, beklagt Chief Ndiweni die ver¬
lorene Würde seines Volkes, den Tod
[28] SF 1/96
§§18
mm
des Geistes, der früher von der Einheit
zwischen ihm und seinen Mitmenschen
sprach.
Die Landfrage verursacht den Men-
sehen in diesem Land viele schlaflose
Nächte. Wir respektieren die Erde. Die
Götter haben uns diese Erde gegeben.
Nicht der Mensch hat sie erschaffen. Es
ist das Werk der Götter, der Schöpfer
v pn Himmel und Erde. Es war bei uns
n icht Brauch, ein Stück Land zu ver¬
kaufen. Die Erde wurde für alle Men¬
schen erschaffen. Die Gebildeten sagen
nun > Land müsse käuflich sein. Wenn
Land gekauft werden kann, bedeutet es,
daß Menschen Geschäfte mit etwas
Rachen, das für alle erschaffen worden
ist.
Als die Weißen in unser Land kamen,
teilten sie fest, daß die Menschen leb*
wo immer sie wollten. Also siedel-
" n auch sie sich an, wo immer sie
Rollten. Aber im Laufe derZeit wählten
Weißen gewisse Gebiete aus, auf
lc sie ein Auge geworfen hatten, und
fklärten sie zu ihren Gebieten. Sie zo-
en Zäune um Land, das nie gekauft
'Orden war, und nannten es ihr Privat¬
besitz. Land, das nie gekauft worden
war. In dieser Gegend haben wir früher
die Häuser und die Felder nur einge¬
zäunt, um sie vor wilden Tieren zu
schützen.
Es ist alles eine Frage des Geldes. In
diesem Land, in dem Land unserer Ge¬
burt, haben wir ein großes Problem.
Jene, die Geld haben, können Land
kaufen. Aber wo sollen die Menschen
leben, die kein Geld haben? Das ist ein
sehr großes Problem. Es schmerztsehr,
das eigeneGeburtsrechtkaufenzu müs¬
sen Die Menschen stehen sich gegen¬
seitig auf den Füßen, beengt, weil sie
kein Geld haben.
Diese Erde gehört den schwarzen
Menschen. Aber die Weißen müssen
das Land nicht verlassen. Wir müssen
nur das Land teilen, gerechter verteilen,
und nicht ein riesiges Stück einem Ein¬
zelnen lassen. Landlosigkeit zerstört un¬
sere Menschlichkeit. Es zerstört uns,
unsere eigene Persönlichkeit.
Wenn Menschen verhungern, wenn
ihnen der Platz fehlt, Vieh und Ziegen
zu halten, wenn sie nirgendwo pflügen
können, sind die Geister des Landes,
die Geister unserer Vorfahren traurig.
Wenn wir nicht glücklich sind, sind die
Geister unserer Vorfahren, die in dieser
Erde begraben liegen, traurig. Die Regen
bleiben aus, unheilbare Krankheiten
breiten sich aus. Etwas stimmt mit die¬
sem Land nicht.
Der christliche Gott ist geringer als
unserer. Man sagt ihm nach, er würde
die Menschen in der Hölle ewig schmo¬
ren lassen. Er ist geringer, weil unser
Gott uns lehrte, daß es zwischen zwei
Menschen nichts Böses gibt, das nicht
vergeben werden könnte. Unser Gott
sagte, wenn zwei Brüder sich über etwas
stritten, wird die Zeit kommen, zu ver¬
geben und zu vergessen. Ein Ritual der
Vergebung wurde durchgeführt. Die
anderen Familienrituale konnten nicht
erfolgen, wenn in einer Familie zwei
Brüder im Zwist miteinander lagen. Es
mußte Harmonie zwischen den Brüdern
herrschen. Die streitenden Brüder gaben
sich gegenseitig Asche, die ohne Wasser
gegessen werden mußte. Nachdem sie
diese gegessen hatten, waren sie Men¬
schen mit einer neuen Vision von Har¬
monie ...
Heute gehen die Führer nicht einmal
hinaus, um die Stimmen der Menschen
zu hören, damit sie wissen, wie sie
leben. Unsere Regierung besteht aus
Politikern. Die Regierung steht in keiner
Tradition. Früher hatten die Chiefs die
Macht, das Leben der Menschen zu
verbessern. In Dürrezeiten schickten
sie diese in Gebiete, in denen es einen
Überschuß an Nahrung gab. In Loben-
gulas Königreich mußte einer, der mehr
Nahrung besaß, als er brauchte, diese
mit den Unglücklicheren teilen. Wer
viele Kühe hatte, lieh einige an jene
aus, diekeine hatten. Die Armen hüteten
diese Kühe, melkten sie und ernährten
ihre Kinder. So überlebten die Armen,
gediehen sogar. Die Armut wurde aus
dem Dorf vertrieben. Niemand mußte
Hunger leiden.
Unter traditioneller Herrschaft mußte
niemand verhungern; im Königreich
der Ndebele gab es keine Armut Einzel¬
ner. Die Menschen sorgten füreinander.
Wenn ein Nachbar Not litt, war es sei¬
nem Nächsten selbstverständlich, ihm
eine Kuh auszuleihen, anstatt sie zu
verkaufen, damit auch die andere Fa¬
milie genug zu essen hatte. Wenn das
ausgeliehene Tier geschlachtet wurde,
teilten sich der Besitzer und derjenige,
der es gehütet hatte, das Fleisch zu
gleichen Teilen, als hätte es beiden ge-
t
i
i
i
SF 1/96 [29]
hört. Dieser Brauch brachte die Men¬
schen einander näher, sie kümmerten
sich umeinander, fühlten miteinander.
Es ist nutzlos, als einziger im Dorf
einen vollen Bauch zu haben.
Unsere Führer sehen das alles, aber
sie geben vor, es nicht zu sehen. Sie
schließen ihre Augen und tun nichts für
das verhungernde Kind, für die alte
Frau, die aufgrund des Hungers jeden
Selbstrespekt verloren hat, für den
Vater, der sich schämt Vater zu sein,
weil er nicht für seine Kinder sorgen
kann.
Die heutigen Führer sagen, wir müs-
erzümst, mußt du die Schwester deines
Vaters holen, damit sie die Flamme
löscht. Du sagst zu ihr, Tante, ich habe
meine Mutter verärgert, was soll ich
tun? Die Tante möchte den Grund des
Anstoßes erfahren. Du sagst ihr alles
und sie nennt dir ein Heilmittel, denn
inzwischen wirst du erlebt haben, daß
der Zorn einer Mutter unendlich ist.
Die Tante wird ihre Brüder einladen
damit du Harmonie mit deiner Mutter
ersuchen kannst. Du berichtest ihnen
von dem Problem, und gestehst, daß du
deine eigene Mutter verärgert hast. Du
mochtest dich und sie befreien, denn
sen vorwärts gehen. Aber ist es denn
richtig, den falschen Weg vorwärts zu
gehen? Ist es nicht besser, innezuhalten,
eine zeitlang zu rasten und nachzuden¬
ken?”
Ein junges Mädchen kommt ange¬
laufen, ziehtan seiner Hand. Sie möchte
mit ihm reden. Es wird Zeit für uns
weiterzufahren. Langsam entfernt sich
Kaisa Ndiweni, geht über das kahle
Land und hört sich die Sorgen seiner
Enkelin am
Ambuya Manditsera trägt in sich die
Erinnerung der Landschaft. Sie spricht
über den Schoß einer Frau wie über
einen Schrein. Sie spricht über die Be¬
ziehungen der Menschen zu den Stim¬
men der Natur, in all ihren Ausprä¬
gungen...
“Der Zorn einer Frau ist von Natur
aus unermeßlich. Wenn du eine Mutter
— »««vjciangms. Man kann dt
nur entkommen, wenn man das
schehene wiedergutmacht.
Mutter ist Liebe und Zorn. In il
der Zorn und die Liebe des Kinde
barens Sie kann ihren eigenen S<
verfluchen, warum hat mirdieser S<
solch ein Kind gegeben? Das ist
Stimme. Deine Tante wird viellc
demeMutterüberreden, zuzuhörer
bitten, die Last ihres Herzens zu äu£
Wenn deine Mutter voller Zorn st
ist das ein schlechtes Zeichen. W
hchkeit ist ein brennender Zorn. L
wird Zorn. Alles brennt. Eine Mu
die in Zorn stirbt, bedeutet Wahn
für das Kind, das sie verärgert hat
x^i du some nicht in Zorn <
Siestammtaus dem Schoßeiner-
Frau. Auch ihr Schoß hat den
des Lebens genährt, dich, ihr Kind.
Wenn dein Vater wegen deines Ver¬
gehens dieses oder jenes von dir fordert,
besorge es. Wenn deine Mutter sagt,
kaufe mir ein Stück Stoff» weil deine
Stimme die Stimme der Respektlosig¬
keit war, dann mußt du es tun. Deine
Eltern zu beleidigen ist ein großes Ver¬
gehen. Es schwappt in dein Gewissen
über.
Wenn ihr Sohn weit weggegangen
und nicht zurückgekehrt war, nahm die
Frau eine glühende Holzscheide in die
Hand und rief die Namen der Vorfahren
an, während sie in der Glutasche schürte.
Mit Worten schmerzender Trauer. Bald
darauf kehrte der Sohn von allein zu¬
rück. Sein Geist und sein Herz werden
die Nachricht von dem Schmerz in dem
Geist und dem Schoß seiner Mutter ver¬
nommen haben.
Der Zorn einer Mutter ist der Zorn
ihres Schoßes, in dem der Samen eines
menschlichen Wesens zuerst genährt
wurde. Der Schoß ist ein Schreim Wenn
du deine Mutter schlägst, mußt du eine
Reinigung vollführen.
Das Ritual demütigt denjenigen, der
dem ganzen Land Übles getan hat. Der
Mann läuft halbnackt durch das Dorf,
nur in Fetzen gekleidet, von den Kindern
gehänselt, eine Zielscheibe des Spot¬
tes im ganzen Land. Manchmal trägt er
nur zusammengebundene Blätter. Ein
Mann, der seine Mutter schlägt, ist ein
Biest.
Wenn deine Mutter gestorben sein
sollte, bleibst du allein und glaubst dich
über der Schwelle der Gefahr. Du hei¬
ratest, zwei oder drei Kinder werden dir
geboren. Bald aber kriecht der Tod her¬
ein wie ein Dieb. Ein Kind stirbt. Du
denkst dir, ich habe noch andere. Dann
stirbt ein weiteres, und dann noch eins.
Das letzte Kind ist tot. In deinem Herzen
spürst du die Geburt eines weiteres
Kindes.
Wahrsager bringen Nachrichten und
Visionen an deine Tür. Du bist nun ein
Waise ohne Kinder und ohne Mutter,
sagen sie. Dein Leben ist verwaist, sagen
sie. Und alles nur, weil du deine Hand
gegen deine Mutter erhoben hast. Nur
du selbst kannst dich reinigen.
Dann saßen die Ältesten mit dir zu¬
sammen, ließen dich an ihren Worten
teilhaben ... wir brauchen eine Ziege,
und Bier aus der Hirse, die du von den
Menschen im ganzen Zimunya Land
erbetteln mußt, nicht aus deiner Korn¬
kammer. Wir brauchen auch ein Stoff"
[30] SF 1/96
stück oder eine Decke. Du gehst von
Heim und Heim, stets mit den Worten:
Ich habe den Schoß meiner Mütter
beschämt
meinen Arm gegen meine Mütter er¬
hoben .
Und nun betrete ich euer Haus
als einer, der um Getreide bettelt.
Nachdem du genug Getreide gesam¬
melt hast und das Bier gebraut werden
kann. Du gehst wieder herum:
Meine Väter, oh
Meine Mütter, oh
Onkel und Tanten , ihr,
das Getreide ist hier
die Ziege ist hier
der Stoff ist hier
Oh, Mutter
Meine Weisheit war in Dummheit
verwandelt
mein Wissen in Unwissenheit
ich bete um Reinigung
daß ich den Schoß ehre
der mir Leben gab
daß ich den warmen Herd erlebe
m it Kindern in meinem Haus
Oenn voller Unwissen habe ich ge¬
kränkt.
Jetzt wird das Bier gereicht. Du trägst
n °ch die Fetzen deiner Reinigung. Du
^Irst wieder Mensch, der Geist deiner
Mutter ruht wieder, der Zorn ist verflo¬
gen, die Flammen, die dich verschlan-
& en > sind zu Rammen geworden, die
dich in Liebe umarmen. Das Leben
beginnt wieder. Zehn Kinder in deinem
Haus, das voller Lachen ist.
Die Erde hat sich verändert. Heute
kranken und beleidigen junge Männer
Un d Frauen den Schoß, der ihnen Leben
g e geben hat, an jedem Ort, an jedem
Tag. Aber die Bestrafung ist taurig, all
die Verbrechen in diesem Land, in an¬
deren Ländern, von denen wir hören.
Menschen töten andere Menschen,
damit sie Teile des Körpers für anderes
^°ben verwenden können. Wann hat es
etwas schon mal gegeben? Mit dem
Tod werden Geschäfte gemacht. Das ist
d>e Strafe fürdie Mißbildungen unseres
Lebens.
In den Tagen unseres Volkes mußte
der König ein gutes Ohr für die Stimmen
der Lebenden und der Toten haben.
Heutesind dicStimmen tot. Denn keiner
ört ihnen zu. Die Führer gehen überall
ln , nur nicht zu ihren eigenen Leuten,
u m die Stimmen der Toten, die Stimmen
aus den Höhlen und den Flüssen, die
brnrnen aus den Tieren und den Vögeln
zu Vc mchmcn.
Niemand weiß mehr, als all diese
Stimmen. Keine Schule kann uns unser
Leben aus Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft lehren.
Die Vorfahren sind weise. Wir, die
Lebenden, sind töricht. Das Land gehört
nichtdir. Die Erde gehört nicht uns. Die
Welt gehört den Vorfahren, die sie,
zusammen mit Gott, erschaffen haben.
Und uns wurde Respekt und Stolz mit¬
gegeben, angesichts der vielfältigen An¬
wesenheit auf der Erde: Menschen, Vö¬
gel, Tiere und Bäume.”
Frühmorgens marschiert Mike Mat-
sosha Hove, verwundert über die Aus¬
dauer unseres Schlafes, in das Zimmer
und ruft: Leute, wie wollt ihr sicher¬
stellen, daß die Hexen zu Bett gegangen
sind? Wie könnt ihr weniger fleißig
sein als die Sonne? Während des Früh¬
stücks merken wir, daß seine Gedanken
die Nächte durchmachen und den Um¬
trieben der Hexen trotzen. Denn M.M.
Hove ist ein nüchterner Bewahrer der
Tradition, ein Mann, der eine euro¬
päische Ausbildung erhalten hat, und
im Laufe seines langen Lebens das
Einsichtige, Überzeugende und Schöne
beider Kultursphären verinnerlicht hat.
Im Augenblick beschäftigt ihn die Kul¬
tur der nordamerikanischen Indianer.
Ihre Einstellung zum Leben und zur
Natur erscheint ihm bei allen Differen¬
zen im Detail sehr vertraut.
Mike Hove erzählt fast den ganzen
Tag hindurch, denn er hat im Laufe sei¬
nes langen Lebens einen großen Reich¬
tum angehäuft, und diesen nicht mit
den anderen zu teilen, wäre doch selbst¬
süchtig.
“Der Mensch ist natürlich nurTeil ei¬
nes viel größeren Systems. Ich unter¬
scheide mich nicht so sehr von der An¬
tilope, die in unserem Wald weidet. Sie
überlebt, genauso wie ich, indem sie die
Natur nutzt, das Wasser, das Gras und
vieles mehr. Vielleicht bin ich intelli¬
genter als die Antilope, denn ich kann
mich vor ihr ernähren, was sie nicht
kann, abgesehen davon, daß sie mein
Getreide stiehlt. Die Europäer glauben.
der Mensch sei dazu berufen, die Natur
zu erobern. Die Berufung der Afrikaner
bestand genau in dem Gegenteil. Wir
haben die Natur nur geringfügig erobert
und sie nicht so verletzt, wie es jetzt
geschieht. Nehmen wir das Beispiel
eines Löwen, der sich umherlreibt und
unser Vieh reißt. Wir werden ihn erle¬
gen. Aber solange er da draußen fried¬
lich lebt, lassen wir ihn in Ruhe. Die
Reichtümer der Natur können von uns
genutzt werden. Aber wir haben die
moralische Pflicht, sie in ihrem Zustand
zu belassen. Wenn du zum Beispiel in
einem Buschgebiet unterwegs bist, wirst
du unzählige Fruchtbäume finden. Du
wirst essen soviel du essen mußt. Den
Rest wirstdu für diejenigen übriglassen,
die nach dirkommen. Vielleichtnimmst
du eine Kleinigkeit als Proviant mit,
aber nicht mehr. Wenn du noch etwas
SF 1/96 [31]
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für die Küche daheim pflückst, ist das
eine andere Sache. Dann sammelst du
für andere, für deine Familie. Nehmen
wir zum Beispiel einen wilden Frucht-
. bäum namens mashoko . Es gab riesige
Wälder von diesem Baum - und Tonnen
von Früchten. Wißt ihr, wie all das
verschwunden ist? Es gab 130 Kilome¬
ter von Bulawayoentfemteinen Farmer,
der die Stadt mit Gemüse versorgte.
Das Gemüse wurde in Steigen trans¬
portiert. Wenn der mashoko-Bmm noch
grün ist, läßt er sich leicht in Streifen
hacken ... so wurden die Steigen her¬
gestellt. Eines Tages kehrte ich aus
Harare heim und mußte sehen, daß der
Großteil der Wälder abgeschlagen wor¬
den war. Dabei wird uns Afrikanern
vorgeworfen, die natürlichen Reich-
tiitner verpfuscht zu haben. Das stimmt
nicht. Bulawayo wareine Minengegend.
Früher gab viele Tiere. Wenn man jetzt
nach Shawane kommt, sieht man nur
noch kahle Hügel. Es gab dort riesige
Bäume, Akazien und andere Hartholz¬
bäume. Sie wurden geschlagen, weil
das Holz für die Minenschächte, für
Öfen und die Eisenbahnlinie benötigt
wurde. Die meisten unserer Sprich¬
wörterhandeln von Tieren, von Vögeln
und Bäumen. Worüber unterhielt man
sich schließlich? Über die Umwelt; was
für Erfahrungen hätten wir ohne diese
Umwelt? Die Weisheit der Menschen
reifteaus ihrer Umgebung heraus. Wenn
Natur dein unmittelbares Erleben ist,
kannst du nicht anders, als deine Weis¬
heit aus ihr abzuleiten.
Es war nicht üblich zu bestrafen. Nach
einem Verbrechen wurden verschiedene
Zeremonien durchgeführt, um das Böse
zu vertreiben. Und in vielen mir be¬
kannten Fällen zeitigte das Wirkung.
Es gab mal einen jungen Mann, der sehr
lästig war, weil er ein gieriges Auge
hatte - er steckte alles ein, was ihm in
die Hände kam. Nachdem man sich
seiner bemächtigt, ihm ins Gewissen
geredet hatte und so weiter, wurde eine
große Zeremonie abgehalten. Er mußte
etwas einnehmen, und das zwang ihn,
sich zu übergeben. Man erklärte ihm,
dies werde getan, um seine Hand zu¬
künftig davon abzuhalten, die Sachen
anderer Leute einzustecken. Das war
die zeichenhafte Seite der Angelegen¬
heit. Das reinigende Mittel konnte etwas
Harmloses sein, etwas, das man auch
Kranken verabreicht. In ganz schlim¬
men Fällen wurde die Person ausge¬
stoßen. Wer sich von den anderen ent¬
fernte, wurde schließlich zum Einzel¬
gänger, und es gab nichts Schlimmeres,
als Einzelgänger zu werden. Das war
eine effektive Drohung. Gefängnisse
waren nicht nötig, weil man nicht be¬
strafte. Man suchte nach einer Lösung.
Es wurde eine Nadel benutzt, um das
gerissene Tuch zu flicken. Wenn gegen
einen Mörder prozessiert wurde, mußte
dieser eine Frau zur Verfügung stellen,
die anstelle des Ermordeten einen an¬
deren Menschen reproduzieren mußte.
Die Brücke zwischen den Lebenden
und den Toten mußte repariert werden.
Harmonie diesseits und jenseits der
Brücke war von zentraler Bedeutung.
In dem Moment, in dem böses Blut auf
dieser Seite der Brücke vorherrscht,
entledigen sich die Verstorbenen ihrer
Pflicht der Fürsprache; Also mußte die
Harmonie wiederhergestellt werden.
Und wenn die Angehörigen des Ermor¬
deten, überwältigt von ihren Gefühlen,
sich an dem Mörder rächten, waren sie
keine Unschuldigen mehr. Denn es gab
keine Rechtfertigung, einen Menschen
zu töten.
Der vorbildliche Mensch istein Men¬
sch, der nicht für sich selbst allein lebt.
Er ist stets Teil eines Teams, Teil einer
Gemeinschaft. Er achtet die Überein¬
kunft in der Gemeinschaft. Er ist ein
Mensch, der nicht abtrünnig wird, ein
Mensch, der mit den anderen fühlt, ein
Mensch, der weiß, daß unsere Gemein¬
schaft aus zwei Teilen besteht, die ge¬
trennt und doch unzertrennlich sind:
den Lebenden und den Toten. Er ist ein
Mensch, der niemandem Schaden zu¬
fügen will. Das ist der Rahmen der
Kraft, die den Menschen Gutes tun läßt*
Höflichkeit ist der Schlüssel zu den
Herzen der Menschen. Wenn du in eine
unbekannte Gegend kommst und Hun¬
ger hast, wenn du einen fremden Ort
erreichst und einer Frau begegnest wirst
du zu ihr sagen: Die Art wie Frauen ihre
Kinder gebären ist überall gleicher¬
maßen schmerzhaft, leidvoll und be¬
glückend. Das ist höflicher als zu sagen*
Ich hab Hunger. Und sie wird verstehen,
was du meinst. Du erinnerst sie an den
Schmerz, den sie für ihre Kinder erlitten
hat, und an das Glück, das sie verspürt
M.M. Hove
[32] SF
1/96
hat. Und wen liebt sie mehr, als ihre
e igenen Kinder? Wenn sie sich in meine
Mutter hineinversetzt, wird sie meine
Mutter. Wenn sie irgendetwas in der
Küche hat, wird sie sogleich zu kochen
beginnen. Jede Frau, die älter ist als ich,
wird mich mein Sohn heißen - das ist
Höflichkeit. Das ist der Schlüssel zu
dem Herzen jener Frau, von der du
gerne Essen erhalten würdest. Und sie
wird es tun. Ich habe das viele Male
erlebt und ich glaube, ich verdanke mein
hohes Alter der Liebe der Menschen
um mich herum. Ein Sprichwort lautet,
jedes Kind ist das Kind von jedem. Du
mußt mich nicht kennen, um meine
Kinder zurechtzuweisen. Sie sind auch
deine. Wenn Kinder sich aus dem Kern
ihrer Familie entfernen, bewegen sie
sich in einen anderen Kern hinein, zu
anderen Eltern und Erwachsenen. Ein
Kind wird in dem Bewußtsein erzogen,
daß man andere Kinder nicht still¬
schweigend Falsches tun läßt. Und wißt
ihr warum? Weil ihr unter den Folgen
2U iciden haben werdet. Wenn diese
Kinder zu schlechten Bestandteilen der
Gesellschaft werden, werdet ihr davon
betroffen sein. Wenn die Geister der
Verstorbenen aufhören, sich für uns
einzusetzen, könnten wir Dürre oder
Stürme erleiden. Jeder ist dafür verant¬
wortlich, schlechtes Benehmen abzu¬
weisen. Jeder ist ein Hüter des Wohls,
der Werte der Gemeinschaft. Das Kin-
ship-System bedeutet, daß alle aus einer
Generation Brüder und Schwester sind.
Jeder aus der nächsten Generation ist
ein Sohn oder eine Tochter. Das be¬
stimmt auch das Verhältnis zwischen
den Menschen: Es herrscht eine Fürsor¬
ge und ein Respekt wie zwischen Eltern
und Kindern. Dadurch entsteht ein um¬
fassendes soziales Denken und Handeln.
Hie Weißen sind verrückt, nur die engen
Verwandten zu zählen. Wir stammen
alle von einem Bullen ab.
Als junger Lehrer lehrte ich in Masase.
Eines Tages ging ich zu dem Chief und
sagte: Chief, ich bin in einer Schule
großgeworden und deshalb nicht ver¬
traut mit unseren Bräuchen. Ich bitte
um Erlaubnis, beim Gericht anwesend
zu sein. Er hat ungehalten reagiert, weil
ich ihn um Erlaubnis fragte. Er sagte:
Das Gericht ist so sehr das Deine wie es
das Meine ist. Es ist das Gericht der
Gemeinschaft und du bist ein Teil der
Gemeinschaft. Als menschliches Wesen
war ich befugt, zu jeder Verhandlung
zu gehen und sogar mein Urteil zu
äußern. Als alle Beweise gesammelt
und die Kreuzverhöre beendet waren,
sagte der Chief: Mr. Hove, sprechen Sie
bitte das Urteil - Sie sind der einzige,
dessen Interessen von diesem Fall
überhaupt nicht belangt werden. Ich
war entsetzt. Ich sagte: Ich bin gekom¬
men, um zu lernen. Genau das zeichnet
Sieaus, antwortete er. Mr .Hove, wagen
sie einfach eine Meinung. Jeder der An¬
wesenden wird Sie befragen, wenn Ihr
Urteil nicht trägt. Also wagte ich ein
Urteil. Wir sagen, daß ein Vorbeige¬
hender das beste Urteil fällt. Er hat
nichts zu verlieren und nichts zu ge¬
winnen, er kennt nicht alle Winkel und
Ecken, alle Ströme und Gegenströme
in der Gemeinschaft.
Ein seelisch ausgeglichener Mensch
ist ein Mensch, der seine Segnungen
zählt. Er möchte prosperieren und er
weiß, daß Prosperität in ihm selbst
steckt. Er ist nicht zufrieden mit dem,
was er erreicht hat und doch ist er
gleichzeitig nicht unzufrieden; er ist
dankbar für das, was er hat. Er zählt
seine Segnungen. Glück wir durch eine
Einstellung gezeugt, die sagt, heute er¬
ging es mir schlecht, morgen wird es
besser werden. Die Ndebele sagen:
Hoffnung bringt nicht um. Wir leben
und bewegen uns aufgrund von Hoff¬
nung. In der dunkelsten Nacht muß ich
irgendwo hin, aber sehe nicht meinen
Weg. Ich hoffe, den Weg zu finden und
ich finde ihn, mit meinen Füßen, selbst
Schlangen, die mich beißen oder Men¬
schen, die mich überfallen könnten. So
eine Einstellung zeugt und erhält Glück.
Du siehst jemanden, dem es in einem
bestimmten Feld besser ergeht als dir,
aber auf einem anderen Gebiet geht es
ihm nicht so gut. Mir war Reichtum nie
wichtig, denn ich wünsche mir Wohl¬
ergehen, und das kommt nicht mit Geld.
Wenn einem der Kinder, meiner Frau
oder einem Nachbarn etwas zustößt,
muß man sich bewußt machen, daß
alles gut wird, und meistens wird es
auch gut. Seine Segnungen zu zählen
gebiert und erhält Glück, aber natürlich
ist es kein wahres Glück, wenn man es
nicht an andere weiterreicht. Man muß
sein Glück teilen.
Die Idee des Tabus hat viele Ausfor¬
mungen. Manchmal wird von Aber¬
glauben, von primiviten Sichtweisen,
von Unwahrem gesprochen. Tabus be¬
inhalten aber genau gesehen Verbote
und Aufforderungen zur Enthaltung.
Sie sind nicht falsch, sondern sie beab¬
sichtigen, die Menschen in Einklang
miteinander zu bringen. Denn nur im
Einklang mit den anderen erkennt der
Einzelne den Unterschied zwischen
richtig und falsch, und handelt danach.
Als ich aufwuchs, sagte man mir, ich
dürfe dieses oder jenes nicht tun. Wenn
man durchs Leben geht, ist jeder Tag
bewölkt von Geboten und Verboten.
Wenn du dir all das vergegenwärtigst
und darüber nachdenkst, muß dir bewußt
wenn ich Schuhe trage. Ich sage, es gibt werden, daß du nur ein winziges Stück-
SF 1/96 [33]
IIIIIHIIMN
chen Leben im Universum bist. Du
magst intelligenter als ein Tier sein,
aber wohl kaum wichtiger. Du lebst
vom Universum, du lebst darin, aber
das Universum lebt nicht von dir. Es
existiert, ob du da bist oder nicht. Die
Natur sorgt für unser Auskommen, aber
wir sorgen nicht für die Natur, es sei
denn wir respektieren und erhalten sie
für die Nachwelt. Darin liegt der Wert
von Tabus: das Universum in seiner
angebrachten Form zu bewahren, Har¬
monie aufrechtzuerhalten. Tabus leh¬
ren Bescheidenheit. Sie vermitteln dem
Menschen, daßer Teil eines unendlichen
Ganzen ist.
In unserem System muß jeder ein
bestimmtes Tier als Tabu achten. Er ißt
es nicht, er respektiert es, weil es die
Seinen in der Natur verkörpert. In Falle
der Hoves ist es der Fisch - wir rühren
ihn nicht an. Die Tatsache, daß wir kei¬
nen Fisch essen, obwohl er vielleicht
sehr lecker schmeckt, dient der Diszi¬
plin. Sie zwingt zum nötigen Respekt,
denn jeder hält eines Tages ein und
denkt darüber nach, wer er ist, welche
Bedeutung er hat, wie er im Vergleich
mit anderen abschneidet. Das Tabu wird
Welternährung
/198 - Der Weg in den Hunger
(11/95, 9 DM)
199 DrogenVerhältnisse
Sucht, Ökonomie, Rassismus
(12/95, 6 DM) ■
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dann seine Einstellung zu sich selbst
und zur Schöpfung um ihn herum be¬
einflußen. Das ist nicht Aberglaube, es
ist ein Mittel, das Gleichgewicht der
Natur durch Respekt zu erhalten.
Land ist das größte Geschenk, das
Gott den Menschen gegeben hat. Er hat
es nicht einem chief gegeben. Also
gehörteLandnichtdem chief, es gehörte
niemandem. Wer immer es benutzte,
durftees sein eigen nennen. Wenn er es
nicht mehr benutzte, wurde es jemand
anderem zugeteilt. Dann kam der weiße
Mann und sagte: Das ist mein Land-es
wareinriesigesStückLand-.undauch
die Früchte darauf gehörten ihm, obwohl
er sie nicht nutzte und sie verrotteten,
denn er wollte niemanden sonst auf sei¬
nem Land haben. Die Menschen wur-
en vertrieben oder gezwungen, jähr-
iche Miete dafür zu zahlen, daß sie da-
rauf lebten, den Boden beackerten und
Vieh hüteten. Dann sagteer, ihr dürft
nicht so viel Vieh auf meinem Land
weiden. Die Menschen wurden von
einem Ort zum anderen getrieben. In
manchen Gegenden wurden sie jähr-
ich weitergescheucht. Dann wurde
Land ein käufliches Gut. Die Afrikaner
durften den Europäern Land abkaufen.
Aber es konnten sich nur diejenigen
Afrikaner Land leisten, die schon Teil
der Geldwirtschaft waren und seit eini-
ger Zeit schon etwas verdienten. Die
anderen wurden mitGewalt gezwungen
arbeiten zu gehen. Die Kopfsteuer wur-
de angeführt. Also machten sich die
Menschen jedes Jahr für ein, zwei
Monate auf die Suche nach Lohnarbeit
bis sie den Beirag fürdie Steuer zusam-
MtanundnachHausegfatan.
len- Natürlich entwickelten sich im
WO»te sich einen Mantel kaufen, also
mußte er langer als ein oder zwei Monate
arbeiten. Die Leute wurden müde von
dem Hinundher, sie zogen es vor mo¬
natlichen Lohn zu kriegen und für
hKhT aI U an ihrem Arbeitsplatz zu
bleiben. Aber sie durften nur so lange in
der jeweiligen Gegend bleiben, wie sie
dort arbeiteten. Sobald die Anstellung
zuende ging, mußten sie Weggehen Die
Landfrage wurde zueinemCip™
blem das den Afrikanern viele schlS
lose Nächte bereitete. ^
Es herrschen viele Mißverständnisse
Tatsä hl R h llC 061 afrikanische n Frau
Tatsächlich ist es so, daß unsere enga¬
gierten Frauen heute fordern, sie mögen
wie ihre Vormütter behandelt werden.
Ein Mann war früher erfolgreich auf¬
grund seiner Frau. Ein Mann, der im
Leben vorankam, tat es, weil er sich mit
seiner Frau beriet. Ein Mann, der sich
nicht mit seiner Frau berät, kann viel¬
leicht heute reich ernten, aber morgen
wird er mit leeren Händen dastehen.
Die Frau wird sagen: Unser Kornvorrat
neigt sich dem Ende zu. Der Mann
richtete sich nach der Frau. Es gab nicht
dieses Verprügeln von Frauen, das wir
heutzutage erleben. Wenn du deine Frau
in dem Kral deines Vaters schlugst,
hast du nicht nur deine Frau, sondern
deinen Vater und deine Mutter geschla¬
gen, denn du solls t deine Eltern respek¬
tieren und nur Gutes vor ihren Augen
tun. Dein Vater würde sagen: Tu das
nicht, sprich mit ihr. Heute wird das
Dialog genannt-es istkeineneueSache
und es stammt auch nicht aus Europa.
Es kommt aus der Erde, auf der wir
leben. Jetzt, in diesem Augenblick da
ihr beide hier seid, tut mein kleiner
Enkel vielleicht etwas Schreckliches,
aber ich darf ihn nicht schlagen, solange
ihr im Haus seid. Das zu tun, würde
bedeuten: Verschwindet von hier, ihr
seid zu lange geblieben. So streng gmS
es zu. Es gab ein Sprichwort: Wenn du
einen Mann siehst, der seine Frau
schlägt, siehst du einen Feigling. Und
wenn dein Kind ein gewisses Alter er¬
reicht hat, die Jugend, darfst du es über¬
haupt nicht schlagen. Du mußt reden,
beraten, führen, empfehlen. Du mußt
Gedanken austauschen. Wenn du deine
Hand hebst, könnte in der Hitze des
Gefechts dein Kindzurückschlagen, und
es gab nichts Schlimmeres als das. Das
würde die ganze Beziehung durch¬
einanderbringen. Also hörst du auf, den
Stock zu benutzen, dein Mund wird zo
deinem Stock. Nur sehr dumme Eltern
würden diese Regel mißachten. Indem
du jemanden schlägst, kannst du nichts
geradebiegen; - du kannst nur das
Schlechte verschlimmern.”
Als wir Mike Matsosha Hove jbeim
Abschied versprechen, ihm sofort nach
Erscheinen ein Exemplar des Buches
zu schicken, sagt er: Ich hoffe, ich hin
dann noch da. Denn ihr wißt ja, zwischen
dem Hier und dem Dort gibt es keinen
Postdienst.
Ende Februar erscheint im Verlag Freder-
king und Thaler der Textbildband-
HÜTER DER SONNE - Begegnungen
mit den Ältesten Simbabwes von Chen
jerai Hove und Ilija Trojanow.
[34] SF 1/96
Interview mit Mitgliedern
des Geheimen
Revolutionären Indigenen
Komitees (CCRI) der EZLN
Oventic (Chiapas, Mex.),
30. Dezember 1995
Das Interview mit
Javier (CJ)
und einem anderen aus
dem CCRi führte
David Rosales Aivarez/
version
In den vergangenen Tagen haben wir
das Verhalten der mexikanischen Re¬
gierung gegenüber der EZLN ganz ge¬
nau beobachten können. Die Bundes¬
regierung hat ihre Truppen in der ge¬
samten sogenannten Konfliktzone
mobilisiert, und die EZLN reagiert da¬
rauf nicht etwa mit Waffengewalt,
sondern mit Theatervorführungen,
Musik, Poesie, Malerei, eben mit kul¬
turellen Aktivitäten. Wollt Ihr damit
gegenüber der restlichen Welt demon¬
strieren, daß ihr Eure Waffen nichtmehr
anrührt?
(CCRI): Wir versuchen dies soweit
es geht, aber die Bundesarmee provo¬
ziert uns permanent, indem sie militä-
neuten Zusammenstößen.
Glaubt Ihr, daß die mexikanische
Regierung bereit ist, alle oder zumindest
einen Großteil Eurer Forderungen auf
friedlichem Wege zu erfüllen?
(CCRI): Bisher werden nur immer
wieder Zusammenstöße provoziert. Um
eine wirkliche Lösung der Konflikte
geht es der Regierung nicht. Seit Beginn
unseres Aufstandes ist keine einzige
unserer Forderungen erfüllt worden. Mit
Repression, mit ihren Panzern und ihren
Waffen droht uns die Regierung, das ist
ihre Antwort.
Zwei Jahre sind verstrichen, seit die
r
I
i
l,
;l
rl
&QS Interview wurde vordem Hinter-
H r und der Errichtung vier autonomer
Kulturzentren in Chiapas, den vier
n fuenAguascalientes y durch die Zapa-
tistas geführt. Die indianische Bevöl¬
kerung verhinderte in diesen Tagen
spontanem Widerstand das Ein¬
dringen der Militärs in die autonomen •
Gemeinden. Mit großem Spektakel und
kulturellen Darbietungen feierten die
Zapatistas den zweiten Jahrestag des
Aufstandes vom 1. Januar 1994.
Indenersten Januartagen 96 fand
in San Cristöbal de las Casas das in -
ter nationale Forum zu "indianischen
Rechten und Kultur" statt. SelbstSub-
COf nandante Marcos kam zu diesem
einmaligen Ereignis aus seinem Ver¬
steck in der Selva Lacandona, um die
Eröffnungsrede zu halten und mitzu¬
diskutieren.
Erst vor wenigen Tagen einigten sich
die zapatischen Rebellen und die Re¬
gierung auf einen neuen Pakt zwischen
den indianischen Völkern und dem
Staat Mexiko. Die beschlossene Auto-
n °mie soll nicht nurfür Chiapas gelten,
sondern für alle indianischen Gebiete
ln Mexiko. Geplant ist auch ein neues
Gesetz zur Agrarreform in Chiapas.
Sollten die bisher papiernen Be¬
schlüsse tatsächlich in die Praxis
^gesetzt werden, ist dies eine in
frte/- und Südamerika einmalige
Öderation zwischen Staat und unab-
hängigen indianischen Gemeinden.
€r Pferdefuß jedoch dürfte die Aus-
kjommerung der Verfügungsgewalt
Über die Naturressourcen sein.
Herby Sachs
rische Zusammenstöße geradezu her¬
ausfordert. Trotzdem werden wir unser
Möglichstes tun, um auf politischem
Wege voranzukommen und so die
Konflikte zu lösen.
EZLN sich mit Waffengewalt gegen die
mexikanische Regierung erhoben hat
und ihre Forderungen nach Frieden,
Gerechtigkeit , Demokratie und Freiheit
formulierte . Haben diese Forderungen
auch heute noch ihre Gültigkeit?
Heißt das, daß Ihr Eure Waffen nicht
niederlegen werdet?
(CCRI): Keineswegs. Wir geben un¬
sere Waffen nichtaus der Hand, solange
unsere Forderungen von der Regierung
nicht erfüllt werden. Zur Zeit sind wir
in der Dialog-Phase, und wir sind bereit,
den Dialog fortzusetzen. Aber wenn
unsalleMöglichkeiten versperrtbleiben
und die Regierung weiterhin provoziert,
entsteht natürlich die Gefahr von er-
(CCRI): Wir werden unsere For¬
derungen nicht ändern. Wir werden wei¬
ter für Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit
und Demokratie kämpfen,bis wir unsere
Ziele erreicht haben. Währenddessen
demonstriert uns die Regierung ihre
Doppelzüngigkeit, ihre zwei Gesichter.
Wie lange noch wollt Ihr auf dem
eingeschlagenen Weg des Dialoges
bleiben?
SF 1/96 [35]
Foto: David Rosales
(CCRI): Von Anfang an haben wir
uns verpflichtet, den Dialog zu führen,
und wir müssen diese Verpflichtung
erfüllen. Jetzt umso mehr, da die Zivil¬
gesellschaft uns gebeten hat, auf poli¬
tischem Wege voranzukommen, unser
Wort zu halten, solange, bis wir keine
andere Möglichkeit mehr haben. Denn
es gibt schließlich Momente, in denen
wir uns verteidigen müssen. Gerade in
den letzten Tagen sind wir so dermaßen
unter Druck gesetzt worden mit all den
Militärpatrouillen und Truppenbewe¬
gungen auf unserem Territorium, wäh¬
rend wir hier unsere seit langem ange¬
kündigten kulturellen Veranstaltungen
abhalten. Trotzdem ist die Militärprä¬
senz enorm hoch, gibt es Militärpa¬
trouillen bei Tag und bei Nacht, kreisen
Militärflugzeuge über uns. Wir haben
keine Angriffspläne. Diese Kulturver¬
anstaltungen sind sogar ganz entschei¬
dend auf unserem Weg zu einem ge¬
rechten und würdigenFrieden. MitPro-
vokation gegenüber der Regierung hat
das nichts zu tun.
Im Ausland gibt es viele Menschen,
die mit der EZLN sympatisieren, ganz
konkret' auch in Deutschland. Welche
Botschaft könnt Ihr diesen Leuten
übermitteln?
(CCRI): Wir können ihnen sagen
daß wir unseren Weg weitergehen wer¬
den, daß wir unser Wort halten werden
bis zum Schluß.
glaubt, wir würden eine militärische
Offensive vorbereiten, was natürlich
nicht stimmt. Deswegen lehnen wir auch
mit aller Schärfe diese massive mili¬
tärische Präsenz ab, mit der sie uns
ein schüchtern, unter Druck setzen und
Vielleicht noch eine Botschaft?
(CJ): Ja. Wir sind mehr als bereit
dazu über unsere Forderungen weiter
mit der Regierung zu reden. Aber wir
sehen und hören auch die Regierenden
wie sie von Frieden, von Dialog reden’
sich gleichzeitig aber immer intensiver
damit beschäftigen, uns unter Druck zu
setzen und zu provozieren. Während-
fHprü" befinden wir uns ruhig und
friedlich in unserem Teiritorium, auf
wollir L r and ’, 10 UnS6ren Häusem und
wollen auf politischem Wege weiter-
t° h “' Wk bereiten keine militäri¬
sche Offensive vor, sondern bauen die¬
sen Ort hierauf, einen Ort für kulturelle
Veranstaltungen, bei denen wir unsere
Erfahrungen und unsere Kultur mit all
jenen teilen können, die z u unshi&rher
ommen, mit der mexikanischen Be-
D« ?L 8 ' mit ziv %eseHschaft
Das haben wir vor., Die Regierung
provozieren wollen. Sie wollen, daß
wir den Dialogprozeß abbrechen. Aber
diesen Gefallen werden wir ihnen nicht
tun. Wir sind bestens für den Dialog
gerüstet.
(CCRI): Und noch etwas, was wir der
nationalen und internationalen Zivil¬
gesellschaft oder allen Solidarischen
sagen können: Im Moment hätte es für
uns keinen Nutzen, zu den Waffen zu
greifen, dies ist nicht die richtige Zeit
dafür. Wir wünschen uns, daß sich alle
mit uns solidarisieren, unseren Kampf
auf ihre Art und Weise unterstützen.
Und wir senden einen Gruß dorthin
nach Deutschland, im Namen des Ge¬
heimen Revolutionären Indigenen Ko¬
mitees aus den Bergen von Chiapas.
Vielen Dank.
Übersetzung: Dorothea Schütze/versioü
SF hat bereits zwei längere Artikel über
die US-amerikanischen "Neonazis und
Abtreibungsgegner " (4195) und über die
ÜS-Milizen-Bewegung (3195) veröf¬
fentlicht. Wir haben uns, trotz einiger
Wiederholungen (zwei, drei Kürzungen
haben wir vorgenommen, um sie nicht
a usufern zu lassen) für den Abdruck
dieses Artikels von Philip Agee ent¬
schieden, weil er die ganze Bandbreite
der rechtsradikalen Bewegung in den
USA vor stellt und so zu einem genaueren
Überblick kommt. Das Mehr an Infor-
Mationen schien uns das nochmalige
Abdrucken einiger bekannter Passagen
zu rec htfertigen. SF-Red.
Unter den vielen Artikeln überdas Ende
des 2 .Weltkrieges, die im August um
die Zeit des 50 Jahrestags der Kapitu¬
lation Japans erschienen, wurde m ei¬
nem der damalige US-Präsident Harry
Truman zitiert, der die Kapitulation über
das staatliche Radio verkündet hatte.
Feierlich proklamierte Truman, daß nun
Nazismus und Faschismus ein für alle
Mal von der Erde ausradiert worden
seien •
In seiner Euphorie über das Kriegs¬
ende irrte er sich gewaltig. Richtiger
lag wahrscheinlich der französische
von Philip Agee
Sozialhilosoph Michel Foucault, der
1972 schrieb:
“Der strategische Feind ist der Fa¬
schismus... der Faschismus in jedem
von uns, in unseren Köpfen und in un¬
serem alltäglichen Verhalten, der Fa¬
schismus veranlaßt uns Macht zu lieben,
genau das herbeizuwünschen, was uns
beherrscht und ausbeutet.”
Mir scheint, daß seinem Verständnis
nach der Faschismus (oder etwas
Gleichbedeutendes) eines der vielen
dunklen, verborgenen Abgründe jeder
SF 1/96 [371
menschlichen Persönlichkeit darstellt.
Es ist wohl keine Übertreibung zu be¬
haupten, daß der Faschismus, weit da¬
von entfernt nach dem Ende des
2. Weltkriegs zu verschwinden, nach wie
vor allgegenwärtig ist - und das in einer
Reihe von Ländern. So wie früher exi¬
stieren heutzutage von Ort zu Ort unter¬
schiedliche Variationen des Faschis¬
mus, aber sie teilen alle ganz bestimmte
Auffasungen und Bräuche. Das Wort
“Faschismus'’ ist übrigens den lateini¬
schen und italienischen Wörtern für
"Bündel” entlehnt. Es wurde zuerst
politisch nach dem 1.Weltkrieg von
Mussolini’s faschistischer Partei in
Italien benutzt, deren Symbol ein um
eineAxtgewundenesFeuerholz-Bündel
darstellt, das sowohl Stärke, als auch
Einheit demonstrieren sollte.
Mussolini und andere frühere Fa¬
schisten der Zeitnach dem 1. Weltkrieg,
eigneten sich die Lehren der ultrakon¬
servativen Schriftsteller des ^.Jahr¬
hunderts an, wie die des Italieners
Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca,
die “Laissez-faire”-Ökonomien und die
Wichtigkeit der Eliten in einer sozialen
Ordnung betonten. Weitere ideologi¬
sche Inspirationen kamen vom franzö¬
sischen Grafen Joseph Gobineau, der
die Überlegenheit einer arischen Rasse
in seinem 1853 verfaßten Werk Essay
über die Ungleichheit der menschlichen
Rasse postulierte und vom Engländer
Houston Stewart Chamberlain, dem
Schwiegersohn Wagners, der seinerseits
ein führender Apologet der “rassischen
Überlegenheit” der Deutschen und der
“Minderwertigkeit der Judn” war. Und
nicht zu vergessen, Friedrich Nietzsche
mit seinen Konzepten der “natürlichen
Aristokratie”, Wille, Kraft, Stärke, der
sogenannten “Herrenmoral” und des
“Übermenschen”.
Bezeichnend für die faschisüschen
Anschauungen nach dem 1.Weltkrieg
und heutigen faschistischen Ideen ist
die weitestgehend gemeinsam geteilte
Auffassung hinsichtlich der Ablehnung
aufklärerischer Lehren und der franzö¬
sischen Revolution; der Konzepte von
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit,
sowie der Deklaration der Bürger-und
Menschenrechte, das heißt humaner und
zivilerRechte, eine säkularen Weltohne
Staatsreligion aber mit der Möglichkeit
einer freien Religionwahl, als auch hin¬
sichtlich der Ablehnung dessen, was
wir heute als liberale Demokratien in
den Vereinigten Staaten und Westeuro¬
pa bezeichnen. Und natürlich opponiert
ier Faschismus auch gegen unabhän¬
gige Arbeiterbewegungen, Gewerk¬
schaften und jede Form von mensch¬
lichem oder egalitärem Sozialismus.
Im Gegensatz hierzu favorisiert der
Faschismus den Nationalstaat, dem alle
individuellen Bedürfnisse untergeord¬
net werden sollen, im Zusammenhang
mitdem Ruf nach einem starken Führer,
der die Interessen der Nation personi¬
fiziert. Eine Diktatur ohne demokra¬
tische Zwänge wurde glorifiziert und
war schließlich auch um des Krieges
willen gegen die inneren und äußeren
Feinde unvemeidlich. Moral wurde
nicht rechtlich oder religiös definiert
sondern als etwas, was den Interessen
des Staates dienlich war. Rassische
Überlegenheit und Antisemitismus,
gestützt auf den Glauben, daß Juden,
obgleich sie als minderwertig katego¬
risiertwurden, danach streben, die Welt¬
herrschaft zu erringen, sind ebenfalls
zentrale Bestandteile des Faschismus.
Nicht zu vergessen, daß die Frauen den
Männern untergeordnet sein sollten, und
Kinder für den Staatsdienst heranzu¬
züchten sollen. Menschen mit homo¬
sexuellen Neigungen gelten als Feinde
der Gesellschaft und des Staates.
In den Vereinigten Staaten existieren
heute eineReihe von politischen Bewe¬
gungen, die einige oder alle prinzipiellen
Merkmale des Faschismus teilen bzw.
verfechten. Zusammen bilden sie ein
sehr kompliziertes Gefüge, das einem
ständigen Wandel unterliegt, das u.a.
wegen ihrer doppelten Mitgliedschaften
und Programme mit den selben para¬
noiden Auffassungen, an Einfluß zu-
oder abnimmt. Ähnlich der ersten Ge¬
neration der Faschisten der 20er Jahre,
glauben sie, daß sie von Feinden ange¬
griffen werden, ihr Leben in Gefahr sei
und daß sie sich der Zerstörung ihrer
Organisationen und ihrer Glaubens¬
vorstellungen durch Gegenangriffe
widersetzen müssen. Die Liste ihrer
Feindeist bekannt: Liberale und andere,
die sich für Chancengleichheit und eine
multikulturelle Gesellschaft einsetzen,
das wohlfahrtsstaatliche System, das
auf die bedürftige Menschen ausge¬
richtet ist, Schwarze, Farbige, Juden,
Sozialisten, Anarchisten und Kommu¬
nisten, Schwule undLesben, Ausländer,
die sich unterschiedlich kleiden, reden
und glauben. Im Allgemeinen kommen
[38] SF 1/96
s ' e > was den wirtschaftlichen Hinter¬
grund angeht, aus den mittleren-und
Un teren Einkommensschichten und
mißtrauen der Bundesregierung und
rhren internationalen Programmen, wie
Partizipation in den Vereinten Na-
honen, in Verbindung mit multinatio¬
nalen Aktiengesellschaften, mal abge¬
sehen vom prinzipiellen Mißtrauen ge¬
genüber der US-Regierung. Noch vor
allen anderen Gegnern betrachten sie
nie Washingtoner Regierung als ihren
größten Feind. Diese Organisationen
u nd Bewegungen, von denen sich einige
als überzeugte Christen sehen (andere
^iederum nicht), haben sich in den
Peinigten Staaten auf dem Hinter¬
grund einer extrem zunehmenden öko¬
nomischen Ungewißheit und Unsicher-
oll) entwickelt. Die Hauptursache be-
Sle ht in der Globalisierung der Öko¬
nomie, der neuen Technologien und im
xport von Millionen Arbeitsplätzen
jns Ausland, um durch billigere Ar-
eitskräfte die Profite zu maximieren,
m stärksten von dieser Entwicklung
c lroffcn sind dabei Menschen mit
geringer Bildung und Begabung, da-
Wnter auch viele, denen - im Gegensatz
* u den ersten Generationen nach dem
^Weltkrieg - trotz ihrer harten Ar-
oeitsjahre jegliche Lebensperspektive
fohlt.
Zahlreiche Statistiken belegen diesen
Prozeß, wobei die Reichen ihr Ein¬
ommen erhöhen konnten, der Einkom-
mensanteil der Bevölkerungsmehrheit
dagegen real abnahm. Beispielsweise
■eien, wenn man die Inflation mit be¬
rücksichtigt, während der vergangenen
0 Jahre die Löhne der Arbeiter in der
roduktion um 20% u’.'d die der jungen
Männer mit nur gerillter Bildung um
30%. Di e mittleren Gehälter liegen
oute niedriger als der Durchschnitt in
den 60er Jahren. Aber in derselben Zeit
konnten die am besten Verdienenden
Ihren Anteil beträchtlich erhöhen. Im
■Zeitraum von 1977 bis 1989 besaßen
1% der reichsten Familien 72% der
gesamten Gewinne des nationalen Ein¬
kommens, während die Ärmeren einen
Anteil von 60% verloren. Heute besitzen
c a 1 % der Amerikaner 40% des Reich¬
tums des Landes und 10% der Familien
besitzen 70%. Kein Zufall also, daß die
oberen 20% der Familien abzüglich der
Steuern über ein höheres Einkommen
verfügen, als die übrigen 80%. Offiziell
leben 15% der Bevölkerung in Armut,
obwohl der wirkliche Prozentsatz wohl
höher liegen dürfte. Schließlich leben
22% der amerikanischen Kinder in Ar¬
mut, viermal soviel wie in Westeuropa.
Der Prozeß der kontinuierlich zuneh¬
menden Konzentration von Reichtum
undEinkommen indenHänden weniger
setzt sich heute weiter fort. Im allge¬
meinen demontierte der Kongreß, der
vom rechten Flügel der republikani¬
schen Partei kontrolliert wurde, in den
insgesamt 60 Jahren das Wohlfahrts¬
system im großen Stil, das ursprünglich
für die Bedürftigen der Gesellschaft
konzipiert worden war. Ein unwider¬
legbares Ergebnis hierfür ist die Tat¬
sache, daß sich die Vereinigten Staaten,
gemessen an den sozialen und ökono¬
mischen Rahmenbedingungen, schlie߬
lich zu dem entwickelt haben, was
allgemein unterdieKategorieeines sog.
“Dritte Welt” - Land fallen könnte.
Ein weiteres Ergebnis ist der Rassis¬
mus, der lange Zeit das Land gespalten
hatte und eine Quelle des Fanatismus
und des Hasses darstellte; momentan
sprechen die Anzeichen dafür, daß der
Rassismus sich eher noch verstärken,
als abnehmen wird. Ein Großteil der
weißen Bevölkerung Amerikas lebt in
ständiger Angst vor schwarzen Men¬
schen. Da sie Kriminalität und Gewalt,
nur von Schwarzen und nicht von Weis-
sen ausgehen sehen. Andere Bedro¬
hungen stellen für sie junge Schwarze
mit Kindern dar, die auf Sozialhilfe
leben, in ihren schwarzen Klubs und
Drogencliquen verkehren oder Rap-
Musik hören. Dies Bedrohung nehmen
sie auch bei Immigranten aus sog.
“Dritte Welt”-Ländem und bei schwu¬
len und lesbischen Wohngemeinschaf¬
ten wahr.
Noch ein weiteres Resultat ist, daß
die besonders gering gebildet- und
begabten Weißen, Opfer dieses Pro¬
zesses geworden sind, völlig entfremdet,
verwirrt und geladen nach Sünden¬
böcken Ausschau halten, denen sie die
Schuld ihrer Misere zuweisen können.
Und anstatt zu begreifen, daß auf diese
Art und Weise nunmal der amerika¬
nische Kapitalismus prinzipiell funk¬
tioniert, machen sie die Bundesregie¬
rung, die beiden politischen Parteien,
die Banken und die großen Aktien¬
gesellschaften dafür verantwortlich.
Dabei schließen sie ein Konglomerat
vieler Millionen Mitläufer ein, die reif
für faschistische Ideen geworden sind
und vorallem den Organisationen, die
ihre Ideen verfechten.
Welche Organisationen
sind dies im einzelnen?
Um der näheren Betrachtung willen
habe ich diese Gruppen in vier Kate¬
gorien unterteilt, die sich, wie ich bereits
erwähnte, z.T überschneiden undeinem
ständigen Wandel unterliegen. Es sind
dies
1. ) die religiöse Rechte und ihre Be¬
mühungen die Republikanische
Partei zu vereinnahmen,
2. ) die sogenannte “Liberty Lobby”
und eine Reihe weiterer Organi¬
sationen, die sich zusammen mit
der Bewegung “Holocaust denial”
gebildet hat.
3. ) die Bewegung “Christian Identity”
und die mit ihrassoziierten Gruppen,
wie “die Aryan Nations”, “ The
Order”, “Posse Comitatus”, die
sogenannte “Patriotische Bewe-
8 un 8 > “Paramilitary Surviva-
list”, die privaten Milizen und
4. ) Der “Ku Klux Klan», “Skin-
heads”, “White Aryan Resistan¬
ce” und die neo-nazistische NSDAP
-AO.
Alle diese Organisationen haben in den
vergangenen Jahren viel Aufmerksam¬
keit auf sich gezogen.
Die heutige religiöse Rechte, auch
unter der Bezeichnung “christliche
Rechte” oder “neue christliche Rechte”
bekannt, ist als derzeitige Bewegung
von der früheren, sogenannten “Evan-
gelicaP-Bewegung, deren Wirken sich
vom letzten Jahrhundert bis in die 50er
und 60er Jahre zurückdatieren läßt, zu
unterscheiden.
Diese Zeiträume beziehen sich auf
ein weites Spektrum konservativer,
evangelistischer religiöser Organisa¬
tionen, die in der Hauptsache pro-
testanisch waren und politische
Bewegungen förderten oder sich in
ihnen engagierten, um ihre religiösen
Auffassungen der übrigen Gesellschaft
mitzuteilen. Kurz, ihre Überzeugungen
drehen sich um eine grundsätzlich
oppositionelle Haltung gegenüber dem
Pluralismus, das heißt auch was die
Ablehnung von gleichem Status der
vielen unterschiedlichen Religionen
angeht. Sie lehnen die Unterschied¬
lichkeit politischer und kultureller
Anschauungen und deren Praxis, sowie
die traditionelle Seperation von Kirche
und Staat in den USA strikt ab. Sara
Diamond hat in ihrem Buch Spiritual
Warfare, in Übereinstimmung mit den
theologischen Positionen, die Unter¬
schiede innerhalbderreligiösen Rechten
herausgearbeitet.
Nach Diamond beinhaltet der Begriff
“evangelical” ein weites protestanti¬
sches S pektrum, daß darauf ausgerichtet
ist, Leute zu bekehren und Ungläubige
zu konvertieren. Innerhalb des Evange-
lismus gibt es zwei Hauptlager: die¬
jenigen, welche zu der Sekte gehören,
die das Lesen der Bibel nicht nach¬
drücklich betonen und die Literaten,
die ihrerseits wiederum in zwei Haupt¬
gruppen unterteilt sind: Die Funda¬
mentalisten und die sogenannten “Pen-
tacostals”. Beide wenden die Schriften
auf alle Lebensfragen an. Gewöhnlich
sind die Fundamentalisten mit den
baptistischen Kirchen assoziiert, die
wiederum lehren, daß die Fähigkeit
Heilungswunderzu vollbringen und “in
Zungen” zu reden in den neutestamen¬
tarischen Zeiten enden würde. Auf der
anderen Seite glauben die “Penta-
costals”, daß die im zweiten Kapitel des
Neuen Testaments beschriebenen Hei¬
lungswunder Für die modernen Christen
genauso gelten würden.
Es gibt schätzungsweise 30Millionen
amerikanische “Evangelicals”, eine
enorm große Anzahl, bei denen die
po/j'/Lc/z-religiöse Rechte danach strebt,
Menschen für ihre Programme zu
rekrutieren. Die größte und mit Abstand
wichtigste Organisation der religiösen
Rechten ist die “Christian Coalition”,
die 1989 von Pat Robertson nach seiner
mißglückten Prasidenschaftskampagne
ein Jahr zuvor gegründet wurde. Die
“Coalition” hatte einen sensationellen
Zuwachs, so daß bereits sechs Jahre
später,also 1995,dieZahl der Mitglieder
auf 1.7 Millionen geschätzt wurde. Sie
sind in 1700 lokalen Untergruppen
landesweit organisiert.
Die Besucherzahlen ihrer jährlichen
“Road to victory”-Konferenz sind von
800 im Jahr 1991 auf40001995 gestie¬
gen. Unter den Regierungsprogramm,
die sie befürworten, zählen ein verfas¬
sungsmäßiger Gesetzesentwurf zur
Abschaffung der Abtreibung, die Rück¬
nahme der Frauenrechte, über ihrLeben
selbstbestimmt zu entscheiden, die
Wiedereinführung von christlichen
Gebeten in öffentlichen Schulen, ohne
Rücksicht darauf, ob dadurch Nicht-
Christen und Atheisten verletzt werden
könnten. Außerdem fordern sie einen
[40] SF 1/96
Regierungsgutschein, mit dem Eltern
die Gebühren für Privatschulen zahlen
können, um dadurch zu vermeiden, daß
ihre Kinder auf weltliche Schulen, das
heißt nicht-christliche Schulen mit
Schülern die keine Weißen sind,
schicken zu müssen. Und schließlich
plädieren sie dafür, alle Bücher, die
ihren Glauben angreifen, aus Schulen
und öffentlichen Büchereien zu ent¬
fernen. „
Während die Ziele der Coalition
national definiert sind, funktioniert ihr
System auf lokaler Ebene. Erfolgreich
waren sie vorallem durch die freiwillige
Unterstützung der Landbevölkerung,
ihre Mitglieder oder Anhänger m
örtliche Mitbestimmungsgremien zu
wählen. Durch ihre Tätigkeiten in
lokalen und staatlichen Bereichen, be¬
absichtigen sie die republikanische
Partei unter ihre Kontrolle zu bekom¬
men Sie dominieren bereits die zen¬
tralen staatlichen Gremien der Repu¬
blikanischen Partei in mindestens 30
der 50 Bundesstaaten. Während des
Wahlkampfs von '94 verteilten sie etwa
30 Millionen Wahlempfehlungen ihrer
600 Kandidatien für Ämter auf re¬
gionaler, staatlicher- und auf Kongre߬
ebene, wobei 60% von ihnen gewannen.
Zusammen mit der ultarechten “Na¬
tionalen Waffenvereinigung” waren
sie in der Tat ein sehr wichtiger, wenn
nichtsogarbestimmenderFaktor dafür,
daß der Kongreß seit 1994 in die Hände
des rechten Republikanerflügels ge¬
langte. Hier nun einige Aussagen des
“Coalition”-Gründers und Führers Pat '
Robertson, dessen Femsehnachrichten
und Redebeiträge zweimal täglich über
sein eigenes Kabel-Netzwerk ausge¬
strahlt werden und schätzungsweise 58
Millionen Haushalte erreichen.
Übrigens hatte Robertson sehr enge
Kontakte zu führenden Persönlichkeiten
der als “Reconstructionist of Domi¬
nion theoiogy” bekannten Vereinigung.
Sie lehren, daß das rechtmäßige Ge¬
setzbuch durch das Alte Tetament als
Grundlage einer zivilen Rechtsprechung
ersetzt werden sollte. Ihre Verfechter
fordern die Todesstrafe für solche
sogenannten “Verbrechen”, wie Ehe-
bruch,Homosexualität, Blasphemie und
die Verbreitung falscherreligiöser Leh¬
ren. Und dies - wohlgemerkt - in einem
Land wie Amerika und nicht etwa im
Iran.
Robertson’s politische Ansichten
beginnen mit dem Glauben an die Ver¬
fassung der Vereinigten Staaten von
1789, die eine “christliche Ordnung für
eine Selbstregierung durch Christen”
geschaffen habe. Die Idee der Trennung
von Kirche und Staat ist für ihn “eine
Lüge der Linken”. Über die Nicht-
Christen schrieb er 1986:
“Es ist interessant, daß Termiten
nichts aufbauen, und die großen Erbauer
unserer Nation nunmal alle Christen
gewesen sind, weil Christen den
Wunsch haben etwas aufzubauen... Die
Menschen, die in unsere Institutionen
kamen sind in der HauptsacheTermiten.
Sie sind dabei, die von Christen auf¬
gebauten Einrichtungen zu zerstören,
ob dies in Universitäten, Regierungen
oder in unseren Traditionen vonstatten
geht... che i ermiten sind jetzt unter ihrer
Obhut... und die Zeit ist gekommen für
eine fromme Ausmerzung.”
Ich weiß nicht, ob sich Hitler als er
über die Juden sprach nicht exakt ge¬
nauso ausdrückte - ich denke jedenfalls,
daß man einen leichten Vorgeschmack
von dem, was ein Robertson da vom
Stapel läßt, bekommt.
Über den Feminismus und der Rolle
der Frauen schrieb Robertson, daß die
“FermnistischeTagesordriung” Frauen
dazu ermutigen würde, " ihre Kinder
umzubringen” und " Anwendung von
Hexerei” darstellen würde. Über die
phillipinische Präsidentin Corazon
Aquino erzählte er: “Ich glaube ehrlich
gesagt nicht, daß Corrie Aquino zu
regieren vermag...sie ist die Ehefrau
ihres erschossenen Mannes, im Grunde
genommen eine Hausfrau...”. Über
Abtreibung sagte er im Fernsehen " Ein
Gemetzel! 1.5 Millionen Babies. Das
kann sich ja mit dem Holocaust von
Adolf Hitler messen, wenn ihn nicht
sogar überbieten.” Lesbisch/schwule
Lebensformen bezeichnete er als
“Krankheit” und beschuldigte solche
Lebensgemeinschaften als “Sodomi-
ten”, die danach trachten “ihren Le¬
bensstil in Schulen , Militär, Regierung,
Geschäftswelt und Kirche durchzu -
setzten”
Paranoia und Verfolgungswahn ist
ein Kernelement von Robertsons’
Glauben, das allen faschistischen
Denkarten gemein ist. Ein Jahr nach
Gründung der “Coalition” von 1990
schrieb Robertson:
“ Zu viele Menschen, Christen können
mit dem Zeitgeist nicht Schritt halten.
Unsere Proteste und Warnungen sind
SF 1/96 [41]
ein Ärgernis. Wir sind die Opfer der
Verachtung, der Verleumdung und des
Hohns. Bald, fürchte ich, könnten unsere
Proteste ohne Gottes Intervention un¬
akzeptabel erscheinen. Wenn das pas¬
siert und es wird passieren, können wir
davon ausgehen, daß uns der gleiche
Umgang wiederfahrt, wie den Juden in
Nazi-Deutschland.”
Und an anderer Stelle sagte er im
Fernsehen:
“Genauso wie Nazi-Deutschland mit
den Juden verfahren ist, so liberal verhält
sich Amerika momentan gegenüber den
“evangelical”-Christen. Da gibt’s kei¬
nen Unterschied. Es ist dasselbe. Es
passiert wieder überall. Es sind der
demokratische Kongreß, die liberal
beeinflußten Medien und die Homo¬
sexuellen, die alle Christen vernichten
wollen.”
Anderswo griff er die vorherrschen¬
den sozialen und poli tischen Ordnungen
an, was von der religiösen Rechten auch
als “säkularer Humanismus” bezeichnet
wird:
“Die Machtzentren unserer Kultur -
Regierung, Erziehungswesen, Medien,
Geschäftswelt etc. sind heute fest in
den Händen der säkularen Humanisten,
die jegliche Anstrengung darauf ver¬
wenden, die auf der Bibel gegründeten
Grundlagen des Christentums in unserer
Gesellschaft zu erniedrigen und auszu¬
löschen.”
Und das Allheilmittel? Nun einige
Statements von Robertson zur republi¬
kanischen Partei:
“Wir sehen es so, daß eine aktive
Mehrheit der Republikanischen Partei
in die Händeder “Pro-Family”-Christen
im Jahr 1996 oder früher gelangen wird.
(Die Insider ziehen es vor, daß “Pro-
Family” lieber als “religiöse oder
christliche Rechte” bezeichnet wird).
Natürlich wollen wir das Weiße Haus
in den Händen der “Pro-Farn ily "-Chri¬
sten sehen, zumindestens im Jahre 2000
oder bereits früher, wenn es uns Gott
erlaubt.”
Und 1991 schrieb Robertson:
“Wenn wir auch weiterh in so arbeiten,
trainieren und organisieren, wird sich
die “Christian Coalition” am Ende die¬
ses Jahrzehnts zur stärksten politischen
Organisation in Amerika entwickeln.”
Angesichts des phänomenalen
Wachstums der “Coalition” und ihrer
Schlüsselrolle bei der Machtübernahme
des rechten Flügels der Republikaner
[42] SF 1/96
im Kongreß, bei den Wahlen von 1994
muß man ihren Erfolg eingestehen. Und
man kann, wenn auch nur im entfern¬
testen Sinn, gewisse Parallelen zwischen
der Weimarer Republik und dem heu¬
tigen Amerika feststellen. Schließlich
kam Hitler nicht zuletzt im Zuge legaler
und parlamentarischer Mittel an die
Macht.
Abgesehen von der “Christian Coa-
lition’’ existieren weitere, durchaus
einflußreicheOrganisationen innerhalb
der religiösen Rechten, die im Rahmen
des legalen Wahlsystems arbeiten, um
ihre ultra-konservativen Dogmen zu
verbreiten. Sie arbeiten in Bereichen,
wie der Kongreß-Lobby und unterstüt¬
zen ihre Wunschkandidaten in Wahlen.
Sie versuchen ihre politischen Ziel¬
setzungen kontinuierlich umzusetzen
und protestieren beispielsweise gegen
Abtreibung vor Frauenkliniken und
greifen feministische und schwule Bür¬
gerrechtsbewegungen an.
Nun zur zweiten Gruppierung inner¬
halb des rechtsextremen Sammel¬
beckens der Vereinigten Staaten: Da
wären zum einen die sogenannte “Li¬
berty Lobby” und die Bewegung, die
den Holocaust leugnet bzw. ihre Be¬
deutung herunterspielt.
“Liberty Lobby” ist der Name einer
Neonazi-Organisation, mit Sitz in Wa¬
shington D.C. 1957 von einem anti¬
semitischen Autor, Willis Carto, ge¬
gründet, entwickelte sie sich aus der
anfänglichen Carto-Organisaüon, mit
dem Namen “Liberty und Property”
und seinem Magazin "Right" heraus.
Carto gründete die Organisation mit
dem Ziel, Druck auf den damaligen
Kongreß für eine ultra-rechte Gesetz¬
gebung auszuüben, um als Vermittler
zwischen dem Kongreß und den von
Carto als “Patrioten” bezeichnten
Fl ügel zu wirken. Er gründete die Orga¬
nisation auch deshalb, um sich bei der
Forschung und der Veröffentlichung
von Schriften, im Interesse der Kon¬
servativen, zu engagieren. Seine ideo¬
logischen Positionen manifestieren sich
in der Kontinuität nazistischer und anti¬
semitischer Bewegungen, während der
Zeit zwischen den zwei Weltkriegen,
die auch unter der Bezeichnung “Na-
tivism” bekannt geworden ist. Dieser
Bewegung gehörte übrigens auch Henry
Ford, Gründer der Ford Motoren Ge¬
sellschaft, als führende Persönlichkeit
an.
Die “Lobby” war während dieser
Jahre sehr erfolgreich, und ihre bedeu¬
tendste Veröffentlichung, "The Spot¬
light" hatte eine Auflage von ca.
100.000 bis 300.000Exemplaren. Carto
schuf eine Reihe von Tochtergesell¬
schaften, eine davon war die "Noontide
Press , mit Sitz in Los Angeles. Diese
Gesellschaft publiziert hauptsächlich
Bücher zur Eugenik, zu Rassismus,
Antisemitismus und Holocaust-Leug¬
nungen. Ein weiterer Zweig dieser
Medienlobby ist das “Sun Radio Net¬
work" mit Zugang zu 1 130 Radio-
S tationen, das eine täglich zweistündige
Talk-Show der “Lobby” namens "Ra¬
dio Free America" sendet.
Eine andere Schöpfung der “Liberty
Lobby” ist das 1978 gegründete Insti¬
tute for Historical Review”, mit Sitz in
Torrance, California. Das Institut ist
wahrscheinlich eine der wichtigsten
Säulen der Neonazi-Bewegung, da es
zum weltweit größten Förderer und
Verteiler der Propaganda der “Leug¬
nung des Holocaust” durch das “Journal
of Historical Review” wurde und Kon¬
ferenzen dieser Art sponserte.
Ein weiterer Ableger der "Liberty
Lobby" ist die “National Alliance",
dieaus der 1968 gegründeten "National
Youth Alliance" hervorging, die damals
das Ziel verfolgte, die linke Studenten¬
bewegung der 60er Jahre zu bekämpfen.
Sie ist als paramilitärische Organisation
einzuordnen, ähnlich den Nazi-Braun¬
hemden der 20er Jahre, die Gewalt be¬
nutzten, um Linke und”Black-Powcr”-
Gruppen an den Universitäten zu zer¬
schlagen. Sie spaltete sich allerdings
recht früh und einer ihrer Flügel ent¬
wickelte sich zur “National Alliance ",
unter der Führung von William Piercc.
Pierce ist ein Uni-Physikprofcssor und
ehemaliger Beamter der amerikanischen
Nazi-Partei. 1978 schrieb Pierce "The
Turner Diaries", eine Erzählung, die in
der Zukunft spielt, in der eine Gruppe
Weißer einen Rassenkrieg gegen die
Bundesregierung beginnt; um eine aus¬
schließlich weiße Nation zu errichten.
Das Buch wurde schließlich zur Bibel
der extrem rechten paramilitärischen
Organisationen erklärt und blieb es
fortan. Nach Ansicht amerikanischer
Schriftsteller ist es sehr gut möglich,
daß das Bombenattentat auf das Bun¬
desministerium in Oklahöma City vom
April, aufgrund der literarischen In¬
spiration Pierces zustande gekommen
ist, zumal das Buch " The Turner Dia -
ries” die Lieblingslektüre Timothy Mc
Veigh’s gewesen ist, der an dem Ver¬
brechen beteiligt war.
In ihrem Buch über das Thema
"benying the Holocaust” zeichnet
freborah Lipstadt die intellektuelle Be¬
rgung zur Rettung und Rechtfertigung
des Faschismus und Nazismus auf und
entlastet Hitler, sein Wirken hätte erst
na °h dem Ende des 2.Weltkrieges be¬
gonnen. Die allerdringlichste Aufgabe
bestand natürlich in der Relativierung
nnd Leugnung des Holocaust. Zwei der
frühesten Leugner waren die Franzosen,
Maurice Bardeche, ein Faschist und
Nazi-Kollaborateur und Paul Rassinier,
e * n ehemaliger Kommunist und “Resi-
stance-”Kämpfer, der in Buchenwald
inhaftiert war. Beide behaupteten, daß
die Beweise für die Existenz von Kon¬
zentrationslagern gefälscht und über¬
trieben seien. Rassinier’s Schriften
w urden in den USA in den 70em von
der "Noontide Press” der “Liberty
Lobby” herausgegeben.
1952 löste W.D. Herrstrom in den
Vereinigten Staaten die Bewegung der
“Holocaust Leugner” mit einem Ar¬
tikel aus, in dem er konstatierte, es habe
fakitsch keinen Holocaust gegeben, da
ja schließlich Millionen Juden, die
angeblich getötet worden waren, heute
auf Amerikas Straßen rumspazieren
würden. Ihm folgte in den 50er und
60er Jahren ein Schriftsteller-Zirkel.
Besonders erwähnenswert ist in diesem
Zusammenhang der Historiker und
Germanophile Harry Eimer Barnes, der
sehr stark von Rassinier beeinflußt
wurde. Einen weiteren wesentlichen
Einfluß hatte David Hoggan, auch ein
Geschichtsprofessor, der "The Myth of
the six Million” verfaßte, das 1969 von
“Noontide Press” publiziert wurde. In
den 70er Jahren wurde Austin App, ein
Englischprofessor und Sohn deutscher
Immigranten, der lange Zeit Nazi¬
deutschland verteidigt hatte, mit seinem
Buch "The Six Million Swindel”, zu
einer führenden Persönlichkeit der
“Holocaustleugner”. In seinem Buch
formulierte er die Prinzipien dieser
Leugnung, auf dessen Grundlage Carto
das " Institute of Historical Review”
gründete. Auf App folgte Arthur Butz,
Professor an der Northwestern Univer-
sity, der "The Hoax of the Twentieth
Century" schrieb, das 1977 erschien. In
Großbritannien kam etwa zur selben
Zeit eine Broschüre mit dem Titel "Did
Six Million Really Die ", unter dem
Pseudonym Richard Harwood heraus,
der vorgab von der Londoner Universität
zu sein. Es stellte sich heraus, daß es in
Wirklichkeit Richard Verall, Heraus¬
geber des Neonazimagazins der“Natio-
nal Front” war, ohne irgendwelche
Kontakte zur Universität von London
ZU Bemüht, Zundel zu verteidigen,
kontaktierten beide einen Amerikaner
in Bosten namens Fred Leuchter, der
die Hinrichtungszelle in US-Gefäng-
nissen entwarf und installierte. Sie
überzeugten Leuchter, der sich fälsch¬
licherweise als Ingenieur ausgab, daß
der Holocaust ein Mythos sei und daß
er als Sachverständiger im Zundelpro¬
zeß auftreten solle. Leuchter flog da¬
raufhin für eine Woche nach Polen,
verbrachte drei Tage in Auschwitz-
Birkenau und einen Tag in Majdanek.
Anschließend schrieb er seine Ergeb¬
nisse unter dem Titel "Der Leuchter
Report” auf, der 1988 veröffentlicht
wurde. In diesem “Gutachten” behaup¬
tete er, daß an diesen Orten, aufgrund
des Entwurfs und der Konstruktion
keine Vergasungen stattgefunden haben
können. Obwohl Leuchter und sein
“Gutachten” als vollkommen unglaub¬
würdig galten, als er schließlich im
Zundelprozeß aussagte, wurde sein
“Report” zur wichtigen Stan¬
dardliteratur der Neonazis und der
“Holocaust-Leugner”.
Die Bedeutung der Bewegung der
“Holocaustleugner” kann nicht genug
betont werden, zumal die gesamte neo¬
faschistische und neonazistische Be¬
wegung von den pseudowissenschaft¬
lichen und pseudoakademischen Wer¬
ken der Revisionisten, zur Legitimation
Hitlers und Mussolinis abhängt. Diese
verfaßten Werke zirkulieren in vielen
Sprachen und werden in Länder wie
Deutschland geschmuggelt, wo sie
verboten sind.
Zu den gegenwärtig führenden Per¬
sönlichkeiten innerhalb der Bewegung
der “Holocaustleugner” zählen Robert
Faurisson, Professorder Universität von
Lyon, sein Protege Henri Roque und
der Herausgeber Pierre Guillaume. In
England ist die führende Figur David
Irving, ein Schrifsteller für völkische
Geschichte und Bewunderer Hitlers, der
schon häufig auf Neonazitreffen in
Deutschland, besonders auf denen der
DVU gesprochen hatte. In Kanada ist
übrigens die bedeutendste Figur Emst
Zundel, ein deutscher Immigrant, der
ein “begabter”, demagogischerAutor
von neonazistischen Abhandlungen ist.
Er verfaßte das Buch mit dem Titel
"The Hitler We Loved And Why”.
Zundel gilt als einer der größten Ver¬
teiler von Neonazipropaganda in der
Welt. Sein Verlagshaus, " Samizdat
Publications” , verteilt eine breite Pa¬
lette antisemitischer, rassistischer und
den Holocaust leugnender Schriften,
(inklusive der Kassetten mit Dritte
Reich-Liedern und -Märschen), nicht
nur nach Kanada, sondern auch in die
Vereinigten Staaten, nach Europa und
vorallem an die Neonazibewegung in
Deutschland. Zundel hatte bereits wäh¬
rend der 80er Jahre zweimal in Kanada
versucht, durch die Veröffentlichung
und Verbreitung falscher Informationen
den Antisemitismus zu schüren. Zu sei¬
nen Verteidigern gehörten Robert Fur-
rison und David Irving.
Noch eine weitere Schöpfung Willis
Cartos und der“Liberty Lobby” ist die
sogenannte “Populist-Party”, die 1984
gegründet wurde, um ihren Kandidaten
in den Präsidenschaftswahlen durchzu¬
bringen. Als er vom Antisemitismus
der “Lobby” erfuhr, legte der Kandidat,
der übrigens ein ehemaliger Olympia¬
sieger war, seine Kandidatur nieder.
Vier Jahre später war David Duke Prä¬
sidentschaftskandidat der “Populist
Party”, ein ehemaliger Führer des “Ku
Klux Klan”-Ordens, der früher einmal
gesagt haben soll: "Ich bin ein Natio¬
nalsozialist, Sie können mich als Nazi
bezeichnen, wenn Sie wollen." Der
Vize-Präsidentschaftskand idat der
"Populist Party" war James Gritz, der
eine Art “Rambo”-Imitator darstellt.
Seine Partei kandidierte in nur zwölf
Bundesstaaten auf der Kandidatenliste
und erhielt gerade mal 50.000 Wähler¬
stimmen. Die Partei unterstützte Duke
allerdings nach Kräften bei seinem
erfolgreichen Wahlkampf im Bundes¬
staat Louisiana 1989, wo er schließlich
republikanischer Abgeordneter wurde.
Sehr aktiv war die “Populist Party”
auch in den nordwestlichen Bundes¬
staaten am Pazifik. (Zu Gritz, Duke etc.
vgl. auch SF 3/95: Daniel Junas: Der
Aufstand der Milizen, S.4ff.)
Zur dritten relativ weitgefaßten Kate¬
gorie der rechtsextremen Bewegung in
den USAzähltdie “Christian Identity"
SF 1/96 [43]
und ihr verwandte Gruppen, wie die
“Posse Comitatus”, die “Aryan
Nations”, “The Order”, die “Patriot
Movement” unddieprivaten Milizen,
die durch das Bombenattentat von
Oklahoma City bekannt wurden.
“Christian Identity” ist eine dezen¬
trale religiöse Bewegung, die einige
der wichtigsten nazistischen und fa¬
schistischen Lehren, einschließlich
eines aggressiven Antisemitismus und
Rassismus, verinnerlicht. Diese Kirche
betont die Notwendigkeit, eine neue
zivile Ordnung, dieauf einem biblischen
Gesetz basiert, auf jede erdenkliche Art,
auch mit Hilfe militanter Gewalt zu
institutionalisieren.
Die Theologie der “Christian Iden¬
tity” stellteine sonderbare Ausformung
innerhalb der religiösen Bewegung im
England des 19Jahrhunderts dar, die
“Britischer Israelismus” genannt
wurde. Sie glaubten, daß die von Gott
auserwählten Menschen, die zehn
verlorenen Stämme Israels, Engländer
oder andere nordeuropäische Menschen
waren und ihre Nachkommen in den
Vereinigten Staaten leben und - mit
anderen Worten - arischer Herkunft
waren. Sie glauben, daß Gott bevor er
Adam und Eva schuf, minderwertige
Menschen, die vor Adam lebten, er¬
schaffen hatte, die heute die Schwarzen
und andere Nichtarier repräsentieren,
die sie wiederum als “Menschen des
Schlamms” bezeichnen. Später erschuf
Gott Adam und Eva, wie es in Genesis
steht, aber die ursprüngliche Sünde
bestand in derkörperlichen Verführung
Evas durch den Teufel, der ein
menschliche Form” annam. Kain war
das Ergebnis des Verstoßes aus dem
Garten Eden in Verbindung mit den
Menschen, die vor Adam lebten, bzw.
den “Menschen des Schlamms”. Ge¬
nauso wie der Sohn des Teufels seine
Nachkommen damit beauftragte, für
immer die Geschäfte des Teufels auf
Erden zu verrichten, würden die Juden
heute als Nachfahren Kains immernoch
die Saat des Teufels streuen. Der Nach¬
komme Abels, der von Adam gezeugt
wurde, schuf die Israeliten und die zehn
verlorenen Stämme, eine genealogische
Abfolge, an deren Ende die weiße oder
arische Rasse steht.
“Christian Identity”-Gruppen be¬
fürworten ausdrücklich militante Posi¬
tionen, um die politische Ordnung um¬
zuwälzen. Siegehen davon aus,daß die
Regierung Teil einer internationalen
jüdischen Verschwörung sei, die sich
auf das zaristische Konstrukt der "Pro¬
tokolle der Weisen von Zion” von 1890
gründen. S ie bezeichnen die Regierung
als sogenannte ",Zionistische Okku¬
pationsregierung "(Z.O.G.). Weil ihren
Kirchen eine zentrale Struktur fehlt,
schwanken die Schätzungen ihrer
Mitgliederzahlen zwischen Dreißig-bis
Hunderttausend.
In den frühen 70er Jahren wurden die
Militanten der Bewegung von William
PotterGale, einem ehemaligen Offizier
der US-Armee, der ein “Identity”-
Minister in Kalifornien gewesen ist,
angeführt. Zu diesem Zeitpunkt waren
die Militanten in der sogenannten
“Posse Comitatus”, vprallem in den
Staaten des Mittleren Westens aktiv.
Der Name bedeutet “Herrschaft des
Kreises ,unddieDoktnnderBewegung
besagt, daß keine höhere Gewalt, als
die lokale Kreisregierung befugt ist,
ihre Macht legitim auszuüben. Ihr Pro¬
gramm beinhaltet u.a. die Zahlung der
Einkommenssteuer, den Gebrauch von
Führerscheinen (oder irgendwelcher
anderer vom Staat oder der Regierung
ausgestellten Dokumente) zu verwei¬
gern, einschließlich Geburtsurkunden
und Heiratsverträge. Der Sheriff des
jeweiligen Kreises gilt als der einzig
rechtmäßige Garant für die rechtmäßige
Anwendung von “law and Order”, d.h.
diese Bestimmungen können nur von
der “posse” des Schliffs umgesetzt
werden, einer lokalen Miliz, die aus
Männern zwischen 15 und 45 Jahren
besteht. 1976 schätzte das FBI die Zahl
der aktiven “Posse”-Mitglieder auf
12.000 bis 50.000, unterstützt von etwa
zehn bis zwölf mal so vielen Anhängern.
Siesindmit73 Abteilungen in 23 Staaten
vertreten. Am aktivsten waren sie in
den 70er und den frühen 80er Jahren.
Etwa 1985 gingen sie in andere Orga¬
nisationen, wie die “Liberty Lobby’s
Populist Party” ein. Nichtsdestotrotz
sind ihre Überzeugungen nach wie vor
präsent und finden sich heute in der
“County Rule”-Bewegung wieder,
welche die Selbstverwaltung des Krei¬
ses über das republikanische Gesetz
Stellt
Posse -Mitglieder waren grund¬
sätzlich schwerbewaffnet und sie be¬
tonten die Notwendigkeit von para¬
militärischen Übungen und Über¬
lebenstraining. Zu ihrer Taktik gehörte
auch die Aufstellung von Todeslisten
für Staatsbeamte. Sie boykottierten
Hypothekenschulden und; Pfändungen
durch Banken und widersetzten sich
ihrer Verhaftung häufig durch Gewalt.
So z.B. im Fall “Gordon Kahl”, ein
“Identity”-Gläubiger und “Posse”-
Anführer. 1983 ermordeten Kahl und
andere “posse”-Mitglieder zwei Be¬
zirkspolizeichefs in North-Dakota. Die
Polizei wurde allarmiert, um Kahl,
wegen seiner Weigerung, die Einkom¬
menssteuer zu zahlen, zu verhaften. Er
entkam, wurde aber einige Monate
später in einem Haus in Arkansas
entdeckt, das von Polizei- und FBI-
Beamten in Brand gesteckt wurde,
wobei Kahl ums Leben kam.
Eine weitere Gruppe, die sich aus der
“Christian Identity” heraus entwickelt
hat, ist die “Aryan Nations”, die von
Richard Butler, einem “Identity”-Mi-
iitanien aus Kalifomia, der 1973 nach
Idaho zog, gegründet wurde. Dort
errichtete er eine “Identity”-Kirche, die
sich “The Church of Jesus Christ
Christian” nannte. Später wurde diese
Kirche zum Hauptstützpunkt der “Ar¬
yan Nation”, Mit ca. hundert Anhän¬
gern gründete Butler ein streng be¬
wachtes, etwa zwanzig Hekatr großes
Lager in der Nähe von Hayden Lake,
das eine Schule, eine Kirche und einen
paramilitärischen Übungsplatz umfaßte.
Seit 1979 versucht die “Aryan Na¬
tions” als Sammelbecken für die unter¬
schiedlichsten Organisationen der Neo¬
nazibewegung zu dienen, ihr jährlicher
Kongreß zog Mitglieder eines weiten
Spektrums der weißen, rassistischen
Gruppen einschließlich des Ku KIux
Klan an, 1986 propagierte diese Bewe¬
gung das Ziel, eine Republik nur für
weiße Staatsbürger zu errichten. Mit
Butlers fortgeschrittenem Alter befand
sich die “Aryan Nations” in den letzten
Jahren allerdings in einer leichten Tal¬
fahrt.
In den 80er Jahren erzeugte “Aryan
Nations” eine der gewalttätigsten, ras¬
sistischsten Gruppierungen dieses Jahr¬
zehnts: “The Order”. Der Gründer war
Robert Mathews, ein Mitglied von
Richard Butlers “Identity—Kirche und
ehemaliges Mitglied der Jugendorga¬
nisation der “National Alliance” von
William Pierce. Mathews war sehr stark
beeinflußt von Pierces’ Erzählung “The
Turner Diaries". Erinnern wir uns: Der
1978 erschienene, fiktive Roman
beschreibt das Szenario einer erfolgrei-
[44] SF 1/96
chen weißen Revolte gegen die republi¬
kanische Regierung, um eine aus¬
schließlich weiße Nation zu errichten,
ln dieser Erzählung wird die Revolution
v on einem kleinen, internen Zirkel
angeführt, der sich “The Order” nennt.
Mathews veranlaßte seine Gruppe,
die nach ihr benannte und geformte
sogenannte “Z.O.G ” zu bekämpfen.
In der Erzählung nimmt “The Order”
den Kampf zunächst mit acht schwer-
bewaffneten Männern auf, deren Anzahl
sich später auf etwa vierzig Mitglieder
erhöht. Während der einundzwanzig
Monate im Zeitraum von 1983 bis '84
verübte die Organisation eine Serie von
spektakulären Bank- oder bewaffneten
Autoüberfällen,wobei siedieerbeuteten
y ier Millionen U.S.-Dollars zum Teil
der Kirche Butlers übergaben. Außer¬
dem fälschten sie Unmengen von Geld¬
scheinen und vervielfältigten diese in
e iner internen Lager-Druckerei der
“Aryan Nations”. Sie verübten eine
Bombenanschlag auf eine Synagoge
und ermordeten einen Talkshow-Mode¬
rator von Denver-Radio. Möglicher¬
weise infiltrierte das FBI die Gruppe
und stellte Mathews und die anderen im
Jahr 1984. Im Dezember umstellten 150
BBI-Agenten ihr Sicherheitsquartier in
Whidbey Island, in der Nähe von Seattle
und steckten es in Brand, wie sie es
zuvor schon mit Gordon Kahl getan
batten, wobei Mathews und die anderen
verbrannten. Die übrig gebliebenen
“Orderi’-Mitglieder, ungefähr zwei
Dutzend, wurden 1985 gefangen
genommen und die meisten von ihnen
landeten im Gefängnis.
Eine weiter noch umfassendere Be¬
wegung, die sich in den 80em ent¬
wickelte, ist unter der Bezeichnung
“Patriot Movement” bekannt gewor¬
den. Sie ist mittlerweile erstaunlich
angewachsen und vereinigt Rassisten
und Antisemiten im Stile der “Liberty
Lobby” und der “Christian Identity”,
sowie andere Einrichtungen, wie z.B.
die “John Birch”-Gesellschaft, die ihre
Verbindungen zum Antisemitismus
abstreiten. Mitglieder der christlichen
Rechten, die an die Lehren Pat Ro¬
bertsons glauben, gehören ebenfalls dem
“Patriot Movement” an. Ihre Mit¬
gliederzahl wurde 1990 auf schätzungs¬
weise fünf Millionen veranschlagt. Sie
alle eint der Glaube an eine interna¬
tionale Verschwörung, wobei politische
nd ökonomische Fakten von einer
leinen elitären Guppe manipuliert
/erden. Ihr Verfolgungswahn basiert
uf der bereits erwähnten ökonomischen
Rezession in den Vereinigten Staaten
und dem sozialen Umbruch m den 60er
lahien, das heißt mit dem Entstehen der
feministischen Bewegung, der Schutz¬
verbände der Schwarzen und anderer
Minderheiten, sowie der Ökologie-Be¬
wegung. Sie betrachten die Regierung
als ihren Hauptfeind, der die Schuld für
ihre Misere trägt. Ein weiterer Ker-
eedanke ihres Glaubens stützt sich auf
jas absolute, uneingeschränkte Recht
Waffen zu besitzen, was sich ihrer
Interpretation zufolge auf den Artikel 2
ler Verfassung gründet, der das Recht
ui- Rfirger einräumt, Waffen zu
besitzen.
Die “Patriot Movement” galt als
oppositionelle Vorhutim Kampf gegen
die Gesetzgebung der Regierung der
»Nach Oklahoma:
Faschismus in den USA«
E'ne Veranstaltungsreise tnit dem Dignlty« aus
^nathan Mozzocki von der »Coalition for Huma
^ortland, Oregon, USA. __ ' _
I ^ranstaltungstermine 1996: Donnerstag, 22. Febr.
L Nürnberg: Samstag, lO.Februar Dresfle' • Freitag, 23. Februar
^Stuttgart: Montag, 12. Februar Leipzig. Montag> 26 . Fe5ruar
Reutlingen: Dienstag, 13. Februar Raunsch g Dienstagr 2 7. Februar
! ^ u PPertal: Donnerstag, 15. Februar Ha • Mittwoch, 28. Febr.
| Bielefeld; Freitag, 161 Februar Freitag, 1 . März
; Bielefeld: Freitag, 161 Februar jgjL Freitag, 1 . März
Oldenburg: Montag, 19. Februar ÄSäide: Sonntag, 3. Marz
j Br emen: Dienstag, 20. Februar Lucjcenwaiu_
°' a Ver anstaltungsrelso wird von den AnttfA-Zätimseii' äntematlonaten
An*-, rech,e Bend« (Hannover): »AntHa-NRW-ZeHung« ,- gt j sc f ies Komitee« (Bremen) unterstützt.
1 az °itung »Searchlight« sowie der Antifagruppe »an
„Nash Oklahoma: Die faschistisch. Szene In den USA.,
Bundesstaaten, die in den vergangnen
Jahren eine Wartezeit für den Erwerb
von Handfeuerwaffen erforderlich
machte, um es der Polizei zu er¬
möglichen, eine Überprüfung des Käu¬
fers und des Verkaufsverbots bestimm¬
ter Angriffswaffen vornehmen zu kön¬
nen. Sie glauben, daß dieses Gesetz, als
Teil eine neuen Weltordnung, der An¬
fang eine umfangreicheren Plans zur
Entwaffnung Amerikas darstellt.
Innerhalb der “Patriot Movement”
und den Überresten der “Posse Comi-
tatus” tauchten Anfang 1990 die pri¬
vaten Milizen auf, wobei zwei Ereig¬
nisse (Weaver und Davidianer-
"Märtyrer", vgl. SF 3195) ihr äußerst
schnelles Anwachsen unterstützten.
(...)
Es wird vermutet, daß sich 1995 in
fast jedem Bundesstaat bewaffnete, zi¬
vile Milizen, mit militärischen Struk¬
turen und Rängen organisiert haben und
das sich ihre schätzungsweise 10.000
bis 100.000 Mitgliederaus überwiegend
weißen Männern zusammensetzen. Das
“TimeMagazine”veranschlagtdieZahl
ihrer Anhänger sogar auf 12 Millionen.
Die Größe ihrer Einheiten wechselt von
Ort zu Ort und liegt bei 5 bis 15 und
mehreren hundert Mitgliedern. Wider¬
stand gegen die Kontrolle des Waffen¬
verkaufs und die Umsetzung von Regie¬
rungsprogrammen, stellen den Aus¬
gangspunkt für ihre Aktivitäten dar. Sie
legen Vorräte an Waffen und Nah¬
rungsmitteln an und verpflichten sich
zu paramilitärischen Übungen, sowie
Überlebenstraining. Der frühere Präsi¬
dentschaftskandidat der “Populist
Party” und Rambo-Imitator James Gritz
isteinerder führenden Persönlichkeiten
ihrer Zielsetzungen (So bezeichnete
Gritz das Oklahoma-Bombenattentatals
“...Ein Meisterstück... als ein Rem-
brandt.”) Die religiösen Vorstellungen
der “Christian Identity” sind unter den
Milizen äußerst populär und obwohl sie
über keine nationale Organisation oder
Stützpunkte verfügen, greifen sie auf
telephonische Infodienste, Computer¬
tagesberichte, E-Mail, Fax und Kurz¬
wellenradios zurück, um ihre Aktivi¬
täten zu koordinieren und Informationen
auszutauschen.
Innerhalb der Milizen eignete man
sich die Doktrin des “führerlosen
Widerstandes” an, wobei kleine Zellen
von sechs bis acht Mitgliedern eine
geheime Einheit bilden, um kriminelle
SF 1/96 [45]
Aktionen auszuführen, inklusive direk¬
ter Gewaltanwendung gegen offen¬
sichtliche Feinde. Louis Beam erfand
ein Konzept, der Penetration von Seiten
der Regierung vorzubeugen. Er war ein
ehemaliger Kampfhubschrauberpilot in
Vietnam, früherer Leiter des texa-
nischen Ku Klux Klan und lebt in¬
zwischen in Idaho wo er bei den “Aryan
Nations” aktiv ist. Beam war ein früher
Organisator der Milizen, und das Okla¬
homa-Bombenattentat kann als gutes
Beispiel dafür gelten, wie sich seine
Doktrin in Praxis umsetzen läßt. Einer
der Angeklagten, Terry Nichols, war in
den “Northern Michigan-Miliz tä ti g,
während der andere Beschuldigte,
Timothy McVeigh ein U.S. Veteran ist,
derim Golfkrieg diente. (.. Auslassung:
Gerüchte der Milizen, siehe SF-3/95)
Obwohl einige ihrer Beschwerden,
die auf ökonomischen Umwandlungen
in den Vereinigten Staaten basieren,
verständlich erscheinen, lassen sie sich
durch ihre extrem-rechten, populi¬
stischen Anschauungen in die Ecke der
nationalfaschistischen Bewegungen
einordnen, wobei sie zu einer real zu¬
nehmenden Bedrohung werden
Die vierte und letzte Gruppe die noch
zu erörtern sein wird ist die extrem¬
rechte, militante Bewegung der Neo¬
nazi-Skinheads, des Ku Klux Klan
und eine weitere Organisation, die sich
“White Aryan Resistance” nennt,
sowei die NSDAP-AO.
Obwohl zunächst viele rechtsextreme
Führer damit begannen, sich dem Ku
Klux Klan anzuschließen, verlor der
Klan seit 1960 schließlich an Einfluß,
da sich eine unterschiedliche Anzahl’
von rivalisierenden Klans herausbildete
und die ständigen Konflikte ihrer Füh¬
rern anhielten. Nichtsdestotrotz setzte
der Klan auch weiterhin die Organi¬
sation paramilitärischer Untergrund-
Einheiten fort, sprach in der Öffent¬
lichkeit von angeblicher Überlegenheit
der Weißen und verfolgteeinen extrem¬
immigrantenfeindlichen Kurs.
Tom Metzger war der Mann, der den
Klan und das Priesteramtder“Christian
Identity” aufgab, um Karriere als
Führer seiner eigenen Neonazi-Orga¬
nisation zu machen. Seine Organisation,
die “White Aryan Resistance “
(W.A.R.) und die mit ihr assoziierte
“Aryan Youth”-Bewegung seines
Sohnes John, haben ihren Stützpunkt in
Südkalifomien, ihr Einflußbereich ist
[46] SF 1/96
allerdings landesweit. Metzger war ein
eifriger “The Order”- Unterstützer
während der 80er Jahre, der Untergrup¬
pen in vielen Bundesstaaten gründete,
“Computer-Info-Netzwerke”,Telefon-
Informationssysteme benutzte und ein
wöchentliches Fernsehprogramm, mit
dem Titel “Race and Reason” produ¬
zierte, das in möglicherweise 50 Städten
auf Kabelfemsehen zu empfangen war.
“Aryan Nations”,“W.A.R ” undder
“Ku Klux Klan” begriffen sehr schnell,
welche Rekrutierungspotentiale sich aus
der Neonazi-Skinhead-Bewegung er¬
gaben, als sie sich Mitte der 80er Jahre
aus Großbritannien in die Vereinigten
Staaten auszubreiten begann. Binnen
zehn Jahren nahm ihre Anzahl um 3.500
zu, so daß sie nun in mindestens 40
Staaten vertreten sind. Sie verübten
knapp 40 Morde an Schwarzen, Spa¬
niern, Asiaten, Homosexuellen und
obdachlosen Menschen. Die Ermordung
eines äthiopischen Immigranten durch
Skinheads in Portland, Oregon, führte
zu einer 12.5 Millionen Dollar Klage
der Familie des Opfers gegen Tom
Metzger, der die Skinheads angestiftet
hatte, das Verbrechen zu begehen.
“Aryan Nations” sponsern regelmäßig
im April in ihrem Camp in Idaho Skin¬
head-Versammlungen, um neben der
Veranstaltung von Rock-Konzerten,
Hitler’s Geburtstag zu feiern. Zweifels¬
ohne hat die Zusammenführung der
Neonazi-Skinheads mit den älteren
rassistischen Gruppierungen, die ge¬
walttätigste rechtsextremistische Be¬
wegung der 90er Jahre erzeugt. Neben
Mord, beinhalten ihre Aktivitäten
militante Angriffe, Schlägereien, Bom¬
benanschläge, Pläne einen Rassenkrieg
zu schüren, Kämpfe mit nicht rassi¬
stischen Skins und die Verbreitung von
Skin-Zeitschriten und Kasetten von
Skin-Rockbands.
Ein anderer Uralt-Neonazi, der enge
Verbindungen zu den Skins pflegte, ist
Gary Lauck der Führer der “Natio-
nalsoziaSistischen Arbeiterpartei”,
oder NSDAP-AO, in Lincoln, Ne¬
braska. Die Buchstaben “AO” stehen
für Aufbau und Auslands-Organisation
der gleichnamigen Partei Hitlers. 20
Jahre lang verteilte er Neonazi-Propa¬
gandamaterial und Zubehör, wie Haken¬
kreuz-Armbänder und -anstecker in den
Vereinigten Staaten, nach Latein¬
amerika und besonders nach Deutsch¬
land, wo diese Publikationen verboten
sind. Seine Schriften erscheinen in 12
Sprachen. Er verteilte auch Anleitungen
zum Bau von Bomben. Neben der Ver¬
breitung von Propaganda, arbeitete
Lauck auch an der Herstellung eines
Netzwerks, dem sich die europäischen
Neonazi-Gruppen seiner NSDAP-AO
angliedem, um die Bewegung durch
eine internationale Komponente zu
erweitern.
Im April 1995 wurde Lauck in Däne¬
mark verhaftet. Als Antwort auf das
deutsche Auslieferungsgesuch, wurde
er von dänischer Seite den Deutschen
Justizbehörden überstellt Er ist mo¬
mentan in Hamburg inhaftiert und wartet
auf seinen Prozeß. Ihm stehen wahr¬
scheinlich fünf Jahre Gefängnis bevor.
Dies sind die wesentlichen rechts¬
extremistischen Akteure und Vereini¬
gungen in den Vereinigten Staaten. Eine
de wichtigsten Einrichtungen zur
Überwachung von Rechtsextremisten,
das "Zentrum für demokratische Er¬
neuerung” in Atlanta, schätzt, daß über
25.000 Aktiveden harten Kern der Neo¬
nazigruppen bilden und daß sie über
200.000 Unterstützer verfügen. Die
Millionen Anhänger der christlichen
Rechten oder die zehntausende von
Milizionären, unter denen sich viele
Neonazis tummeln, mal nicht dazuge-
rechnet.
Wohin wird die Dynamik dieser
breitgefächerten Bewegung letzlich
führen? Es ist faktisch unmöglich dies
genau vorauszusagen. Aber eines ist
sicher, es sprechen keinerlei Anzeichen
dafür, daß sich, angesichts der zuneh¬
menden Entwicklung der Vereinigten
Staaten zu einem quasi “Dritte Welt’*-
Land, die Aussichten auch nur an¬
nähernd verbessern würden. Wie das
Ergebnis des O J. Simpson-Prozeß ge¬
zeigt hat, ist die Trennung zwischen
S chwarz und Weiß so weit fortgeschrit¬
ten und das Klima untereinander so
feindschaftlich, wie nie zuvor.
Die Schwarzamerikanerin Toni
Morrison, die 1993 den Literatumobel-
preis gewann, schrieb zu Beginn dieses
Jahres:
.Das Einzigartige des Faschismus
ist , daß jede politische Struktur diesem
Virus als Wirt dient und daß für ih n
praktisch jedes entwickelte Land ein
passendes zuhause werden kann. Der
Faschismus spricht ideologische Bände,
ist in Wirklichkeit aber nur reine Ab¬
satzpolitik - Absatzpolitik für Macht .
Zusammengefaßt und übersetz
aus dem Amerikanischen
von Arian Faribod
25 Jahre
Black Rose
Books
»Prinzip 1:
Du mußt die
Selbstausbeutung
akzeptieren«
Interview mit
Dimitri Roussopoulos
von Wolfgang Haug
und Andl Ries
^ ra ge: Dimitri , wir wollen mit der
Verlags ge schichte beginnen. Wann
hast Du mit Black Rose Books an ge¬
fangen? War st Du alleine? Wie kamst
L« dazu , libertäre Bücher zu ver¬
legen? Wie kam es zum Namen?
dimitri: Das sind viele Fragen.Ich war,
^ie Ihr wißt, in den 60er Jahren sehr
äktiv innerhalb der Neuen Linken.
Schon immer sehr an theoretischen
Prägen interessiert, gründete ich 1961
flrit einer Gruppe von Freunden in
Montreal eine Zeitschrift, die »Our
Generation«. Die Zeitschrift sahen
^ir als Versuch, die Ideen der Neuen
Linken kritisch zu untersuchen und
eine Grundlage zu schaffen, die
libertären Tendenzen innerhalb der
Neuen Linken bewußter zu machen,
verdeutlichen, woher sie kommen,
^it was sie verbunden sind und wie
sie programmatisch für zukünftige
Veränderungen genutzt werden kön¬
nen.
D as war im Herbst 1961, aber eine
Zeitschrift, die viermal im Jahr er-
cheint, hat ihre Grenzen. Als sich in
Nordamerika dasEnde der Bewegung
angsam ankündigte, nahm deshalb
969 die Idee, Black Rose Books
lufzubauen, Gestalt an Die Idee
■ntwickelte sich aber recht unortho-
lox Ich wurde von einem großen
/erlag angesprochen, ein Buch über
lie Neue Linke in Canada zu schrei¬
en Ich schrieb das Manuskript,
Iler, heute weiß ich es besser
vartete, daß wenn ich heute das
inuskript dem Verlag übergebe,
3 Buch auch eine Woche später
rauskäme. AberderVerlagbrauch-
natürlich länger, genauer gesagt
juchte er 6 Monate, - heute wei
, daß 6 Monate überhaupt nichts
id in der Verlagslandschaft. Damals
jrdeich sehr ungeduldig undmeme
ilitischen Freunde waren es eben-
Hs Wir wollten das Buch aus poli-
Chen Gründen schnell veröffent-
ht sehen. Wir saßen eines abends
imirzuHauseundwir entschlossen
s unseren eigenen Verlag zu star-
n Wir waren zu neunt und j er
g t6 daß er mit 100 Dollar dabei
L Mit diesen 900 Dollar verof-
rndichien wir dieses erste Buch, das
hr erfolgreich war. Wir legten es
-eimal auf und verkauften zwischen
V)0 und 9000 Exemplaren. Das war
170 sehr bemerkenswert. In dieser
eit kam Murray Bookchin nac
lontreal, er saß bei mir zu Hause,
ir tranken Wodka und überlegten
ns , wie dieser Verlag nun heißen
könnte. Murray schlug vor, ihn Black
Rose zu nennen. Er erzählte uns den
Ursprung des Mythos der" Schwarzen
Rose": Gemäß der Legende würden
diejenigen in den Bauernkriegen des
Mittelalters,diedieFreiheitgefunden
hatten, auch eine schwarze Rose in
derNatur finden. Umgekehrt würden
diejenigen, die eine schwarze Rose
gefunden haben, auch die Freiheit
finden. Es erübrigt sich hinzuzufügen,
daß wir niemals ein Logo der schwar¬
zen Rose machen ließen, denn wir
wollten natürlich, daß die mensch¬
liche Phantasie frei darüber verfügen
kann.
Vor 25 Jahren also haben wir den
Verlag begonnen und ca. 250 Titel
wurden seitdem produziert.
Frage: Was hat sich in all den Jahren
verändert? Sind heute von den neun
Gründungsmitgliedern außer Dir
noch andere irgendwie im Verlag
tätig?
Dimitri: Nein. Wir begannen als Ko¬
operative, aber alle anderen arbeiteten
in ihren jeweiligen Jobs. Ich war der
einzige, der entschied, ausschließlich
den Verlag zu machen.
Wenn aber eine Person eine Tätigkeit
jeden Tag macht und die anderen sich
alle zwei Wochen einmal treffen, dann
entsteht natürlich ein Wissensvor¬
sprung. Sie übernahmen bestimmte
Aktivitäten wie die Herausgeber¬
schaft, das Auftreiben von Manus¬
kripten etc. Nach ungefähr 5 Jahren
£
3
2
%
oo
§
,oo
SF 1/96 [47]
Foto: Woli
Neues aus dem Trotzdem
Verlag
Joseph Weber: Die Krise des sozialen
Bewußtseins in unserer Zeit.
Weber beschreibt die fehlende Verantwortlich¬
keit der Intellektuellen am Beispiel der Ent¬
stehung der Atombombe. 99 S„ 16.- DM
Jean-F.Lyotard: Streitgespräche, oder
Sprechen nach Auschwitz.
Der Versuch einer Wiederanknüpfung eines
Austauschs von deutscher und französischer
Philosophie, Neuauflage, 16.-DM
Louis Adamic: Dynamit.
Geschichte der revolutionären Arbeiterbewe¬
gung in den USA von 1880-1930. 416 S., 20.-
W.Balsen/K.Rossel: Hoch die interna-
tionale Solidarität.
Grundlegendes selbstkritisches Werk zur Ge¬
schichte derDritte-Welt-Bewegung in der BRD
vom Ende des Faschismus bis in die 80er Jahre
anhand der Beispiele Algerien, Vietnam, Chile,
Nicaragua, El Salvador und Portugal. 616 S
29,80 DM
Klaus Schönberger/Claus Koestler: Der
Freie Westen oder Der vernünftige
Krieg.
Wie hierzulande die Herrschaft der "neuen"
Weltordnung als "Krieg in den Köpfen" be¬
gonnen hat. Kritische Auseinandersetzung mit
der Medienpolitikrund um den Golfkrieg. Ehe¬
mals Selbstverlag, ermäßigt auf 15.-DM
Weitere preisgünstige Restauflagen
bei Trotzdem
- Carl Harp: Liebe und Haß. Aufzeichnungen
eines schwarzen Anarchisten über die Realitätsanes
alltäglichen Kampfes in amerikanischen Gefäng¬
nissen . 1981 wurde Carl Harp tot in seiner Zelle
aufgefunden... Früher 12.-jetzt: 10.-
- Für eine Gesellschaft ohne Knaste. Knastkampf
in Italien. Früher 14.-, jetzt: 5.-DM
- Knobelspiess: QHS - Der langsame Tod. Bericht
aus einem französischen Hochsicherheitstrakt.
Früher 12.-, jetzt: 4.- DM
- 10 Tage, die England veränderten. Riots in
Brixton und anderswo in Großbritannien. Früher
12.-, jetzt: 3.- DM
- Volker Szmula (Hg.): Johann Most - Schriften.
4 Bände mit Artikeln Mosts aus seiner Zeit in
Deutschland vor den Sozialistengesetzen. Je ca.
220 S., nur noch 40.-DM
Trotzdem-Verlag, PF 1159,
71117 Grafenau/Württ.
gingen sie zu anderen Dingen über.
Die einzige andere Person aus dieser
Ursprungsgruppe, die im Umfeld von
Black Rose blieb, istLucia Kowaluh.
Die meisten der ursprünglichenLeute
sind schon noch interessiert und un¬
terstützen in der einen oder anderen
Weise den Verlag, aber sie wissen,
daß das ernsthafte Verlegen auch für
einen radikalen Verleger sehr viel
Professionalität verlangt. Es gibt
Dinge, die mensch lernen muß, um
zu überleben. Und ich habe jeden Tag
hinzugelemt. Man muß es gut machen
und schnell und effizient handeln.
Die anderen erkannten, daß sie nicht
ernsthaft in eine solche Arbeit einge¬
bunden sein könnten.
Frage: Du hast uns erzählt, daß Murray
einer der ersten Autoren des Verlags
war. Wie ging es weiter. Heute ver¬
legst Du u.a. auch Noam Chomsky.
Wie hast Du diesen Verlag entwickelt,
nach welchen Kriterien setzt sich das
Programm zusammen?
Dimitri: Eines unserer selbstgesteckten
Ziele war es, Bücher aus der anarchi¬
stischen Tradition wieder zu ver¬
öffentlichen, weil auf Englisch nicht
mehr viel Ernsthaftes dazu lieferbar
war. Das erste Buch, daß wir ver¬
öffentlichten, war Ida Metts "Der
Kronstadt-Aufstand" und Murray
schrieb dazu eine lange Einleitung.
Dies war unsere erste Zusammen¬
arbeit mit Murray Bookchin, der
regelmäßig nach Montreal kam, weil
er in jener Zeit dabei war, nach
Burlington/V ermont umzuziehen, wo
er heute lebt.
— ~ w,, uuscies vorn a De ns
Schlüsselbücher der anarchistischer
Tradition verfügbar zu machen, un
der neuen Generation der 60er unc
70er die anarchistische Traditior
bekannt zu machen.
Zum anderen wollten wir nicht ledig¬
lich "Klassiker” publizieren, sondern
wollten zeitgenössische anarchisti¬
sche Schriften herausbringen. Einer
er wichtigsten zeitgenössischen
Autoren ist Murray Bookchin, ein
anderer ist Noam Chomsky, ein
anderer war (1995t) George Wood-
COCK.
Das erste Buch Murray Bookchins,
das wir veröffentlichten, war "Post¬
scarcity Anarchism", das ursprüng-
lieh von Ramparts Press in Berkeley,
California veröffentlicht und dort sehr
erfolgreich gewesen war (es konnte
80.000 Exemplare verkaufen.) Als
Ramparts pleite ging, übernahmen
wir den Titel in das Programm von
Black Rose. Ich glaube wir haben es
inzwischen auch 5 oder 6 mal neu
aufgelegt, es wird immer noch nütz¬
lich gefunden. Danach fragten wir
Murray, ob er eine Sammlung seiner
polemischen Essays zusammenstelle.
Und gaben dies als "Towards an
Ecological Society* heraus.
Der Kontakt zu Noam Chomsky
entstand Anfang 1980. Ende der 70 er
Jahre wurde er von einem Verlag
gefragt, ein kurzes Essay über den
Vietnamkrieg zu schreiben, er unter¬
schrieb den Vertrag, lieferte das
Manuskript ab und das Essay wurde
auch gedruckt. Aber im Moment des
Drucks wurde der Verlag von einem
größeren Verlag, Warner, aufgekauft.
Der Vizepräsident von Warner las
das Essay und entschied, daß die
Warner Company diesen Essay von
Noam Chomsky nicht vertreiben
könne. 10.000 Exemplare wurden
eingestampft und niemand außerhalb
von Warner bekam das Essay zu
Gesicht. Persönlich hatte ich Noam
während der Anti-Vietnam-Demon¬
strationen kennengelemt. Als ich das
bei Freunden in Boston hörte, fragten
wir ihn, ob er es nicht ein wenig
ausbauen könne, dann könnten wir es
als Buch herausbringen. Er sagte zu
und arbeitete zusammen mit Ed Her¬
mann daran, seinem Freund, der an
der Pennsylvannia Universität lehrt.
Und typisch Chomsky wurden aus
dem einen Buch zwei Bücher. Wir
verlegten es als Band 1 und 2 der
»Politischen Ökonomie der Men¬
schenrechte«. Damit begann meine
persönliche Zusammenarbeit mit
Chomsky, die bis heute andauert.
Interessanterweise begann diese Zu¬
sammenarbeit bei einem Treffen
gegen den Krieg in seinem Haus; cs
waren viele Leute da. Im gleichen
Raum mit uns saß auch Daniel Ells¬
berg und Chomsky und er unterhielten
sich sehr viel von Ohr zu Ohr. Zwei
Wochen später (ab dem 13. Juni 1971>
Anm. SF-Red.) veröffentlichten
New York Times und die Washington
Post die Pentagon Papers. (Dt. Die
Pentagon-Papiere. Die geheime G e '
[48] SF 1/96
Schichte des Vietnamkrieges, Deutescher
Bücherbund Stuttgart, 1971; Arun. SF-
^ ed 0 Offensichtlich hatten Noam
und Daniel besprochen, welches der
beste Weg wäre, die Pentagon Papers
öffentlich zu machen. Eilsberg hatte
ln öer Rand Cooperation an den ge¬
heimen Papieren gearbeitet, die ent¬
hüllten, was die Amerikaner wirklich
* n Vietnam gemacht hatten. Seine
Veröffentlichung schlug wie eine
Bombe ein.
kleine Zusammenarbeit mit dem be¬
kannten Historiker George Wood-
c ock, der leider 1995 gestorben ist,
Sing von der Idee aus, alle Schriften
v on Peter Kropotkin auf Englisch
2 nsammenzutragen und herauszuge-
ben. Es wurden 12 Bände, die wir
über einen Zeitraum von ungefähr 6
Jahren herausbrachten. Der letzte und
neu ste der Bände, Evolution and
Environment, kam leidereinen Monat
n ach George Woodcocks Tod heraus,
dieses Buch ist im übrigen eine Erst¬
ausgabe, es besteht aus Artikeln Kro-
Potkins, der, wie ihr ja wißt, die
m cisten seiner Bücher so geschrieben
hat, daß er Zeitschriftenartikel als
Kapitelgrundlage nahm. Diese Artikel
über die "Umwelt" waren lange Zeit
Ver gessen. Woodcock fand sie und
stellte sie in seine Reihe. Woodcock
^ar ein bemerkenswerter Mann. Er
Sc hrieb zwei oder drei Bücher pro
Jahr.
Alle drei Genannten befanden sich
lrn übrigen auch als Mitherausgeber
lrn Impressum von »Our Generation«.
Frage: Ein linker politischer Klein-
verlag hat eigentlich immer mit dem
wirtschaftlichen Überleben zu käm-
i pfen, gab es solche Probleme bei
Black Rose?
Dimitri: Es ist mir wichtig zu betonen,
daß Black Rose keine 25 Jahre lang
überlebt hätte, wäre da nicht die
Unterstützung und Zusammenarbeit
dieser Leute und vieler anderer Men-
sehen gewesen, die niemals danach
geschaut haben, irgendwelches Geld
mit Black Rose zu verdienen!
Frage: Aus eigener Erfahrung wissen
wir, wie schwer es ist, verlegerische
Vorhaben zu finanzieren, wie schwer
es bleibt , als radikaler politischer
Kleinverlag überhaupt in die Buch -
handlungen zu kommen, die allesamt
kapitalistisch funktionieren müssen
und deshalb ihre Regale nicht mit
Büchern vollstellen, die sich selten
verkaufen, weil sie nur ein Minder¬
heiteninteresse reflektieren.DieFra-
se die sich nach25 Jähren aufdrangt,
ist wie ist Black Rose damit umge¬
gangen, wie habt ihr überlebt und
wie wird es weitergehen?
I*J
m pap
iDimitri: Natürlich ist ein Teil der Ant- jftf ^ !
wort eine sehr persönliche Sache: Du
mußt einen sehr einfachen Lebensstil
entwickeln. Wolfgang hat mich in
Montreal besucht und weiß, wir leben
in einer Kooperative, bezahlen des- i§j| !
halb eine sehr niedrige Miete, unsere '^ßi; 11
Ansprüche sind gering. Das ist wich- *■,£!
tig. Das erste Prinzip bei einer solchen gj. l.-ft«
Tätigkeitist,daßDudirderSelbsiaus- »w 'S*
beutung bewußt wirst und damit zu- m. ’ |1||
frieden bist! Du kannst mit Freunden ml
vielleicht mal groß Essen gehen, aber
eben vielleicht dreimal im Jahr. Ins-
gesamt mußt du aber das Prinzip der ||t§?®t§l
Selbstausbeutung akzeptieren. Ich & $
habe kein Auto, ich tu das nicht und m- S
jenes nicht... aber das Leben geht
trotzdem weiter und ich kann vieles j' |
in meinem Alltag genießen. Um dich m . |;
herum, um den Verlag herum, braucht Ä|g' «
es dann auch immer eine ganze An¬
zahl von Leuten, die genauso denken
und handeln und sich in dieser ver¬
einbarten Zusammenarbeit ebenfalls
selbst ausbeuten. Das reichtnatürlich
noch nicht aus. Du mußt auch noch
sehr dynamisch, sehr ernsthaft bei
der Sacheund sehrclever sein. Gerade
weil du radikale B ücher verlegst, mußt
du sie vom Technischen her auf die
best mögliche Weise machen. Du
mußt den kapitalistischen Markt "aus
beuten". Ihr seht hier sehr viele cana
dische Verleger, sie respektieren alle
Black Rose Books, obwohl sie alle
V ■
' . '
illl
unsere Bücher nicht leiden können. I
Sie bekommen schon deswegen Re- p
spekt vor uns, weil wir jedes Jahr p
wiederaufderFrankfurter Buchmesse I
auftauchen. Sie wissen ja nicht, daß
wir nicht wie sie in teuren Hotels
wohnen sondern bei Freunden, die
uns unterstützen. Dann: obwohl es
sehr bequem ist im Ghetto, ein Verlag
muß darüber raussehen. Muß sich
Respekt verschaffen. Du mußt deine
Autorinnen dazu verpflichten, etwas
für den Verlag zu tun. Die Autorinnen
wissen, daß wenn du nicht überlebst,
werden diese Art von Büchern nicht
mehr herauskommen sehen, nicht nur
ihre eigenen, auch alle ähnlichen.
Deshalb hat Black Rose sich nie
geniert, die Hilfe der Autorinnen
anzufordem. Und zwar die Hilfe aller
Autoren, ganz besonders aber die der
berühmtesten. Wir fragten sie, ob sie
nach Monteal kommen, um Vorträge
zu halten, ob sie Lesungen machen
etc. - alles, um Black Rose konkret zu
unterstützen. Das ist sehr, sehr
wichtig. Das ist eine kurze Antwort,
ohne in Details zu gehen, wie man
z.B. neue Leserschaften erschließt.
Eine besondere Sache in Canada läuft
über die neuen Medien, du hast eine
Telefonnummer in den US A und Ca¬
nada, wo jederundjede, obein Buch¬
laden, eine Bibliothek oder eine
Privatperson anrufen kann, ihren
Buchwunsch draufsprechen kann,
ihre Kreditkartennnummer angibt
und anschließend das Buch erhält,
weil diese Bestellung an uns weiter¬
geleitet wird, und wir sie ausliefem.
Black Rose hat auch eine E-Mail-
Adresse oder ist im Internet, die
Nummern sind in unseren Katalogen
verzeichnet. Im Internet haben wir
auch Zusammenfassungen oder
Kurzvorstellungen eingespeichert,
damit die Leute genau informiert
werden, ob sie dieses Buch lesen
wollen. Wir müssen einfach diese
verschiedenen Wege wahmehmen,
um Bücher zu verbreiten. Denn das
Netz der Buchhandlungen wird in
allen Ländern kleiner und kleiner. Es
wird beherrscht von den Großen im
Geschäft und diese unterliegen voll¬
kommen dem kapitalistischen Markt¬
geschehen, dem Profit, d.h. sie wollen
unterhaltsame Bücher. Die Bücher
sind Unterhaltungsware geworden,
es geht nicht mehr darum, daß sie ein
Leben bereichern oder daß sie Neues
erschließen, in ihrem Sinne geht es
um die bloße Unterhaltung. Es
kommen mehr Farben, mehr
Fotographien, die Buchformate wer¬
den größer usw., und diese Art Bücher
finden sich dann in allen Buchhand¬
lungen. Dieser Prozeß findet gerade
in Deutschland statt, aber vor ca. 10
Jahren hatten wir diesen Prozeß be¬
reits in Canada. Der kleine Buchladen,
der ein Sortiment wirklich wichtiger
Bücher führt, ist die Ausnahme. Es
wird solche Läden noch geben, und
es ist auch sehr wichtig für einen
Verlag, daß er mit den ca. 50 wichtig¬
sten unabhängigen Läden möglichst
persönliche Kontakte unterhält. In
Canada haben wir dieses Netzwerk
dahingehend ausgebaut, daß wirdiese
ca. 50 Läden rabattmäßig anders be¬
handeln als die kommerziellen Buch¬
handlungen. D.h. sie unterstützen uns
und wir unterstützen sie, aber das ist
nicht genug, du mußt viele verschie¬
dene Wege gehen, um zu überleben.
Wir geben z.B. auch sehr viel mehr
Geld für Anzeigen aus als früher und
in jeder Anzeige taucht diese inter¬
nationale Telefonnummer auf. Wenn
du all diese Dinge machst, die j sehr
ermüdend sind und viel Zeit verschlin¬
gen, istes möglich zu überleben, nicht
mehr. Wir reden ja nicht über Profite.
Für wichtig halte ich auch, daß wir
unsere Erfahrungen weitergeben und
jemanden dafür interessieren, die
Arbeit so fortzusetzen, denn wir sind
sterblich. Deshalb wünsche ich mir
auch eine regelmäßige Zusammen¬
kunft aller radikalen Verleger am
Rande einer Buchmesse, denn es gibt
im kapitalistischen Markt viele Dinge,
die ähnlich funktionieren und die wir
voneinander lernen können.
Frage: Du hast zB. mit Al Gedicks
Buch "The New Resource Wars -
Kämpfe der Ureinwohner und der
Umweltschätzer gegen die multi¬
nationalen Konzerne" auch mehrere
Titel mit speziell canadischen Themen
imProgramm. Wie wurden die ange¬
nommen?
Dimitri: Neben den zwei Grundpfeil ern
unseres Programms sind die! kri¬
tischen und antiautoritären Unter¬
suchungen zur kanadischen Gesell¬
schaft wichtiger Bestandteil unserer
Arbeit. Das brachte uns in Canada
öffentliche Akzeptanz als Verlag.
Unser theoretisches Hauptinteresse
bestehtdarin, ein tieferes Verständnis
dafür mitzuentwickeln, wie die fort¬
geschrittene industrielle kapitali¬
stische Gesellschaft heute aussicht.
Wir veröffentlichen also sehr wenig
über die "Dritte Welt" oderdie "Süd¬
liche Hemisphäre". Die Linke ver¬
öffentlicht sehr viel dazu. Aber die
Mehrheit der linken Verlage veröf¬
fentlicht wenig oder nichts Wichtiges
zum Verständis unserer eigenen Ge¬
sellschaft. Kaum je wird analysiert,
wie der zeitgenössische Staat jede
Opposition absorbiert und verdreht.
Oft denken wir, daß wir etwas Wich¬
tiges tun und merken erst später, daß
wir die Marionette der sozialen, Öko¬
nom ischen und politischen Kräfte
unsererGesellschaftsind. Wirmüssen
verstehen, was neu an unserer Ge¬
sellschaft ist und wir wir dies neu
bekämpfen müssen.
[50] SF 1/96
Frage: Kannst Du die Rolle von "Our
Generation " für die Entwicklung
dieser Arbeit näher beschreiben und
auch eine Einschätzung darüber ge¬
ben, ob mit der Zeitschrift eine Aktua¬
lisierung des Anarchismus gelang?
Und schließlich, kannst die Organi¬
sation der Zeitschrift ein wenig be¬
schreiben?
Lirnitri; Viele Verfassern von Artikeln
fiel das Schreiben kurzer Sachen für
Our Generation leicht, aber sie für
e in Buch zu ermutigen, war und ist
e ine ganz interessante Sache. Ein
Buch hatein "anderesLeben" alseine
Zeitschrift. Ich habe die Erfahrung
gemacht, daß die Lesegewohnheiten
zwischen Zeitschriften und Büchern
sehr unterschiedlich sind. Leute, die
Zeitschriften lesen, lesen auch Bü¬
cher, aber Bücherleserinnen lesen
n icht notwendigerweise auch Zeit¬
schriften.
Aber es stimmt, bei vielen Buchau-
torlnnen, mit denen wir arbeiteten,
er gab sich der erste Kontakt über die
Zeitschrift. Beispiele dafür gibt es
viele.
Eine Zeitschrift erlaubt es aber auch
Politisch verschieden orientierte Leu¬
te zusammenzubringen, dabei ist das
Spektrum breiter als das des Verlags,
^ie Zeitschrift organisierte eine jähr¬
liche Zusammenkunft, zu der viele
Mitarbeiter kamen. Es war ein Feier-
tegswochende im September, an dem
'vir uns drei, vier Tage lang auf dem
Land treffen konnten. Dort wurde
diskutiert und dort wurde die weitere
Vorgehensweise besprochen und
entschieden. Diese Leute beobachte¬
ten alle neuen politischen und sozialen
Entwicklungen, was dann natürlich
nuch darauf Einfluß hatte, was wir
bei Black Rose herausbringen woll¬
ten.
Aber letzten Herbst bin ich diese viele
Arbeit müde geworden und habe den
Leuten mitgeteilt, daß ich mit der
Herausgabe der Our Generation nicht
^ehr weitermache. Wenn es jemand
a uderes übernehmen könne, gut, aber
'vir haben dann Our Generation nach
30 Erscheinungsjahren beendet.
p
a ge: Gab es keine Gruppe, die die
^eitere Herausgabe übernehmen
konnte?
Limitri: Es gab keine Gruppe. Es gab
S usan L. Brown in Toronto oder Mike
Achbarin Vancouver, die interessiert
waren und es gab eine weitere Person
aus einer Kleinstadt in Ontario, die
weitermachen wollte. Die Schwie¬
rigkeit ist doch, wenn du damit an¬
fängst, müßtest du ein Jahr nach Mon¬
treal kommen und an der Zeitschrift
direkt mitarbeiten und deine Erfah¬
rungen sammeln. Danach könntest
du nach Toronto oder Vancouver zu¬
rückgehen und von dort aus weiter¬
machen. Aber das war praktisch nicht
machbar.
Frage- Wie war die Reaktion der Le¬
serschaft auf deine Einstellungsan¬
kündigung?
Dimitri: Es gab Reaktionen. Viele
wollten, daß wir weitermachen. Aber
schon vor 5 Jahren wollte ich auf¬
hören, und da hatte es viele Proteste
gegeben, ich solle weitermachen, es
seidieeinzigeemstzunehmendeanar-
chistische englischsprachige Zeit-
schriftmitAnspruch auf Analyse usw.
. und ich habe weitergemacht. Aber
diesmal war es endgültig.
hst du in der neueren Zeit-
Society and Nature eine
erin? Welche Unterschiede
Dimitri: Society andNature ist eine sehr
gutgemachteZeitschrift. Aber Society
and Nature ist keine anarchistische
Zeitschrift, es ist noch nicht mal eine
sozialökologische Zeitschrift Erin¬
nert euch an den Untertitel, wo es
heißt, daß die Zeitschrift eine Zeit¬
schrift für die "politische Ökologie"
sei. "Politische Ökologie" ist aber ein
viel weitgefaßterer Begriff als "So¬
ziale Ökologie". "Politische Öko¬
logie" umfaßt z.B. prinzipiell auch
alle GRÜNEN, alle Umweltschützer
etc. Natürlich enthält die Zeitschrift
eine Vielzahl sozialökologischer
Artikel und das ist sehr wichtig. Der
internationale Herausgeber, Takis
Fotopoulos, sieht sich selbst auch als
Sozialökologen. Auch der Herausge¬
ber der englischsprachigen Ausgabe,
Pavlos Stavropoulos, sieht sich als
Sozialökologe. Aber ich glaube, daß
die Zeitschrift weiter entwickelt wer¬
den muß. Sie muß außer in Griechisch
und Englisch auch in anderen Spra¬
chen erscheinen. Und darin liegt die
Chance, daß es verstärkt ein sozial¬
ökologisches, d.h. in der Konsequenz
ein mehr libertäres Organ wird. Aber
ich denke trotzdem, daß es keine
Nachfolgezeitschrift für Our Gene-
Aufkleber „gegen den Strom 11
von „Anarchie“ bis „Zukunft“.
115 versch. Motive. Prospekt bei
P.R.O. Peter Rose,
Herzogstr. 73/IV, 80796 München.
Wir drucken und entwerfen auch
nach Euren Vorlagen + Ideen.
T.089/3081235 Fax 089/3081854
SF 1/96 [ 51 ]
zentrieren Machtinstitutionen wirk¬
lich zu verändern, damit meine ich
Handlungen, die darüber hinaus¬
gehen, vor einem Gebäude einer zu
verändernden Institution zu demon¬
strieren. Oder ich meine die Arbeit
mit normalen Leuten, in Wohn- oder
Produktionskooperativen oder er¬
zieherischen Bereichen auf lokaler
Ebene. Allgemeiner: alles was auf
lokaler Ebene für eine Einflußnahme
der Bürger offen und erreichbar ist,
sollte von Anarchistinnen konstruktiv
genutzt werden, um die Grenzen der
Teilhabe und Mitsprache immer
weiter auszudehnen. Immer in die
Richtung von Selbstorganisation und
Selbstverwaltung, das berührt dann
irgendwann auch die Struktur der
Stadtverwaltung und deren Art der
Entscheidungsfindung. Wenn wir
dies nicht tun und in unseren Cafes
und kleinen verrauchten Zentren unter
uns bleiben und über die nächste
Demonstration diskutieren, drehen
wir uns im Kreis und warten auf die
Revolution. Man kann aber nicht auf
die Revolution warten, man muß
vielmehr täglich konstruktiv für die
Veränderung arbeiten.
Ich kenne viele Leute, die mit mir
einer Meinung sind, aber leider gibt
es eine Kluft zu vielen anderen, die
dem A im Kreis folgen.
Frage: Gab es viele Konflikte innerhalb
der anarchistischenBewegungwegen
dieser Haltung? Oder andersherum
gefragt: Du hast mit der kommunalen
Gruppe "Ecology Montrdal" konkrete
Erfahrungen gemacht und dich auch
bei den Kommunalwahlen als Stadtrat
für Montrial zur Wahl gestellt. Nach -
dem dieser Wahlkampf nun vorüber
ist, du knapp gescheitert bist, kannst
du vielleicht nachträglich deine
Erfahrungen einschätzen? Hast du
mehr politischen Einfluß entfalten
können , als als Herausgeber einer
Zeitschrift und als Verleger oder als
Mitarbeiter in der lokalen Wohn -
Kooperative? In welcher Hinsicht war
die Kandidatur für Dich die viele
Arbeit, den Streß und denÄrgerwert?
Dimitri: Es ist richtig, daß ich Schrift¬
steller, Herausgeber und Verleger bin,
aber ich war immer davon überzeugt,
- seit meinem 15. Lebensjahr, daß
wenn ich ein emstzunehmender In¬
tellektueller sein wollte, daß ich dann
auch ein ernsthafter Aktivist sein
müßte. Aktiv in konkreten organi¬
sierten Initiativen, die etwas verän¬
dern wollten. Nur wenn du die Er¬
fahrung hast, kannst du auch die wei¬
terbringenden theoretischen Beiträge
verfassen. Es muß eine Beziehung
zwischen Theorie und Praxis geben,
das ist meine Überzeugung. Und das
ist auch meine Haltung zur gegen¬
wärtigen anarchistischen Bewegung-
die Praxis vieler Anarchisten heute
ist kontraproduktiv, sie rennen feegen
eine Wand, sie gehen nicht weiter, sie
verharren in der Negation, sind anti,
anti-, anti-... - all das ist wichtig, aber
du mußt auch sagen können, wofür
du bist! Du mußt auch in der Lage
sein, die konstruktive Seite des Anar¬
chismus aufzuzeigen. In dieser Hin¬
sicht ist in meinen Augen der | wich¬
tigste zeitgenössische Denker, der für
eine heutige anarchistische Politik¬
fähigkeit Hinweise in die richtige
Richtung gibt, Murray Bookchin. Er
ist einerseits ein wichtiger Philosoph*
andererseits ein wichtiger politischer
Denker. Er präsentiert eine philoso¬
phische Gesamtsicht der ökologi¬
schen Krise in "Social Ecology " u nd
er definiert in seinem wichtigsten
Buch " Urbanization without Cities
(dt. »Die Agonie der Stadt«, erscheint
ration ist, weil Society and Nature
z.B. niemalshistorischeUntersuchun-
gen zu anarchistischen Experimenten
beleuchten würde, wie wir das mit
der Ukraine, Spanien, Portugal oder
Frankreich 1968 getan haben. Ich den¬
ke andererseits, daß es wichtig ist für
die Menschen, diese historischen
Beispiele und Erfahrungen kennen-
zulemen, sich im Kontext zu sehen
und dadurch mehr über die eigene
Gegenwart zu wissen, in der sie selbst
operieren.
Aber ich denke, daß zeitgenössische
Anarchisten bei Society and Nature
mitarbeiten sollten. Ich glaube näm¬
lich, daß eines der Probleme der zeit¬
genössischen Anarchisten darin be¬
steht, daß sie zu sehr auf ihre lokalen
und politischen Ghettos beschränkt
bleiben. Sie sind entweder gefangen
vom "klassischen Anarchismus" oder
vom "Protest-Anarchismus”. In die¬
sem Gefangensein scheint mir das
Hauptproblem des zeitgenössischen
Anarchismus zu liegen, es kommt
keine wirkliche "Politik" aus dieser
Bewegung, d.h. sie greifen außerhalb
ihres eigenen Milieus nicht wirklich
politisch ein. Mit Eingreifen meine
ich Handlungen, die sich darauf kon¬
j [52] SF 1/96
j
|
i
[
i
endlich Ende März 1996 im Trotzdem-
Verlag, Grafenau, Anm. SF-Red.) die
Politik, die sich aus dieser Philosophie
ableitet, mit dem Konzept des liber¬
tären Kommunalismus.
Wie man aber auf lokaler Ebene eine
organisierte und programmatische
Bewegung schafft, mit der man dieses
Konzept in die unmittelbare Praxis
umsetzt, haben wir in Montreal aus-
probiert. Nach jahrelangen Aktivi¬
täten im Stadtteil, in den Nachbar¬
schaften wie z.B. den Wohnkoope-
r ativen, haben wir versucht in dieser
hochmaterialistischen Gesellschaft,
in der die Menschen im Wesentlichen
nur noch an ihrem eigenen Leben
Interesse haben und kein öffentliches
Leben mehr pflegen, miteinerGruppe
v on Leuten libertären Kommunalis-
m us in die Praxis umzusetzen. Wir
Wurden als Individuen bekannt, auch
als Anarchisten, - jeder, der mich
könnt, weiß, daß ich Anarchist bin.
Unter dem Strich waren wir nicht
allzu erfolgreich. Wir gründeten 1990
e iue kommunale Liste, die Ecology
Montrdaf mit einem sozialökolo¬
gischen Programm und nahmen in¬
zwischen zweimal an den Stadtrats¬
wahlen teil, um eine kritische Oppo¬
sition in den Stadtrat zu bekommen.
Wir bekamen zwar beim zweiten Mal
m ehr Stimmen als zuerst, aber ohne
das Verhältniswahlrecht, das es in
Nordamerika nicht gibt, ist es äußerst
schwierig irgendjemand durchzube¬
kommen. Diejenigen, die gewählt
Wurden (es handelte sich um eine
faktische Listenverbindung mit einer
anderen grünen Gruppierung, von der
z ^ei den Sprung schafften; SF-Red.) S ind
in ihrerpolitischen Haltungnichtallzu
klar. Das Wahlsystem fördert eben
e ine ganz bestimmte Art von Per¬
sonen. Es geht nach dem Aussehen
Un d nach den Versprechungen, die
sic machen. Wenn du also nicht die
"richtigen" Dinge sagst und nicht den
richtigen" Zeitpunkt abwartest und
überflüssigerweise auch noch nicht
'richtig" aussiehst,bekommstdü auch
uicht die Aufmerksamkeit der Me¬
dien, die nötig wäre, damit Leute auf
dich aufmerksam werden. Das war
e ine der Erfahrungen. Die andere war,
daß wir eine Basisorganisation auf-
riauen wollten, die ihren Schwerpunkt
a uch auf die Basisarbeit legt. Die
Interessen der Grünen aber gingen in
e ine andere Richtung; ich denke, das
ist in Deutschland ganz ähnlich, in
Canada gibt es nicht so viele, aber
diejenigen, die akti v sind, interessie¬
ren sich mehr für die Politik auf na¬
tionaler Ebene bzw. der Ebene der
Provinzen und weniger für kommu¬
nalen Einfluß. Sie reden zwar von
Basispolitik, aber sie verstehen nicht,
was damit gemeint ist. Wir waren in
der Überzeugungsarbeit bei den Grü¬
nen leider wenig erfolgreich, und
konnten nicht viele dazu bewegen,
bei unserem Experiment mitzuma¬
chen. Viele halten auch die Ideen von
Murray Bookchin für zu radikal, für
zu anarchistisch. Während uns die
Anarchisten wiederum Verrat vor-
werfen. . .
Andererseits ist das Beispiel von
Montreal bislang der am weitesten
vorangetriebene Versuch, sozialöko¬
logische Ideen in die politische Praxis
umzusetzen. Ich kenne keine andere
Stadt, in der mehr versucht worden
wäre.’ Andererseits ist der historische
Zeitpunkt sehr ungeeignet. Ganz all¬
gemein schwierig aufgrund des
gegenwärtigen Zustands des Kapita¬
lismus und speziell schwierig mo¬
mentan in Montreal, denn Montreal
liegt, ich wünschte.es läge woanders,
aber es liegt in Quebec und die poli¬
tische Frage, die dort derzeit als ein¬
zige zählt, ist der Nationalismus, der
französischsprachige Separatismus
vom englischsprachigen Canada.
Leider werden wir auch von außen
nicht motiviert, es gibt keine solchen
Experimente in Frankfurt, London,
Milano, Glasgow, Athen oder in
Städten der USA. Überall gibt es
Gespräche, viele Diskussionen, aber
niemand beginnt mit den ersten orga¬
nisatorischen Schritten, noch nicht-
mal um einen emstzunehmenden
Diskussionszusammenhang aufzu¬
bauen. Ich weiß nicht, warum? Es
könnte Unreife sein oder auch Feig¬
heit.
SF 1/96 [53]
Frage: Um diesen Zustand zu verbes¬
sern , gibt es jetzt einen Plan ein So¬
zialökologisches Zentrum in Grie¬
chenland aufzubauen. Wie weit ist
dieses Projekt?
Dimitri: Es ist sehr wichtig für die Euro¬
päer zusammenzukommen, zusam¬
men zu diskutieren, gerade wegen
der vielen verschiedenen Sprachen.
Man kann die GRÜNEN für vieles
kritisieren, aber sie haben wenigstens
ein internationales Büro und treffen
sich auf internationaler Ebene regel¬
mäßig in Brüssel oder Straßburg. Die
Sozialökologen haben das bislang
nicht geschafft. Bislang fällt diese
Verbindung der Zeitschrift Society
and Nature zu, es gibt neben der
griechischen und englischen Ausgabe
demnächst eine spanische, die in
Uruquay herausgegeben werden wird.
Aber das muß ausgebaut werden und
es müssen direkte Kontakte her. Es
gibt ja in den USA, in Burlington das
Institut für Soziale Ökologie und es
gibt ein sozialökologisches Zentrum
in Australien und es gibt ein Institut
für politische und soziale Ökologie in
Chile und es wird bald eines in
Montevideo gestartet. Selbst zu dem
Zentrum in Nowogorod (vgl. SF 3/94
(Nr JO) Interview mit VadimDamier) gibt
es Kontakte. Aber es gibt in ganz
Europa keine direkte Anlaufstelle.
Deshalb denke ich, daß es Zeit wird,
ein solches zu gründen.
Frage: Wie soll es arbeiten , was wären
seine Aufgaben?
Dimitri: Es soll Leute zusammenbrin¬
gen, um politische Programme zu
diskutieren. Es soll Kurse und Vor¬
träge anbieten, um mehr über die ra¬
dikale Soziale Ökologie zu erfahren.
Und es soll spezifische Veranstal¬
tungen ausrichten, wo ganz besürhmte
Leute hinkommen, die ernsthaft an
Projekten arbeiten, seien es Zeit¬
schriften, Bücher oder politische Ak¬
tionen.
Da die erste wichtige Zeitschrift für
Soziale Ökologie in Griechenland
herausgegeben wurde, liegt es nahe
auch das Institut in Griechenland zu
gründen, zumal dies z.B. im August
ein Platz ist, wo jeder gern hinfahren
möchte.
Die griechischen Genossen müssen
motiviert werden, dies zu tun. Sie
haben die Fähigkeit dazu und auch
einige lokale und finanzielle Möglich¬
keiten. Ein Vorteil ist auch, daß die
Grünen dort nicht sehr stark sind, so
daß man leichter mit einer sozial¬
ökologischen Position etwas auf¬
bauen kann, ohne gleich Gefahr zu
laufen, daß eine Partei daraus wird.
Zuletzt gibt es noch einen theoreti¬
schen Hintergrund: wie ihr wißt ist
vieles aus der Argumentation für
einen libertären Kommunalismus aus
der griechischen Demokratievorstel¬
lung der Polis abgeleitet. Die ganze
Frage der direkten Demokratie z.B.
Es geht quasi um die Wiedereinfüh¬
rung dieser Inhalte in die grünePolitik
und in das libertäre Ideengut.
Wir reden oft über anarchistische
Organisationsprinzipien im Anarcho¬
syndikalismus, aber es gibt wenig
Diskussionen über anarchistische
Prinzipien in einer anarchokommu-
nistischen Gesellschaft, wirreden da¬
rüber, daß Vollversammlungen Ent¬
scheidungen treffen, daß es Nachbar¬
schafts- und Stadtteilversammlungen
gibt, aber dann wird es schon vage.
Ich denke, wir müssen die radikalen
demokratischen Strukturen der Ver¬
gangenheit einbeziehen, wie kamen
sie zusammen, wie trafen sieEntschei-
dungen auf lokaler Ebene. In Athen
hatten sie viele konkreten Möglich¬
keiten'direkter Teilnahme entwickelt.
Man muß sich nur daran erinnern
daß von 110.000 Einwohnerinnen im
antiken Athen immerhin 60.000
politischen Einfluß wahrnehmen
konnten, oder daß eine Versammlung
mindestens 6000 Anwesende benö¬
tigte, um beschlußfähig zu sein. Wie
lief das praktisch? Wie beteiligten
sich 6000 Menschen? Was waren die
Mechanismen? Wir sollten das stu¬
dieren und diskutieren, und es im
Computerzeitalter in Zusammenhang
damit bringen, was dies praktisch für
ein anarchistisches Gesellschaftspro¬
jekt bedeuten kann.
Frage: Du hast uns bereits davon er¬
zählt, daß es in Nordamerika politi-
sche Differenzen zwischen den So¬
zialökologen und der anarchistischen
Bewegung gibt. Nun gehört die grie¬
chische anarchistische Bewegung
eher zu den stärksten in Europa. Wie
schätzt Du, als regelmäßiger Be¬
sucher Griechenlands, die Situation
ein? Bestimmen ebenfalls die Diffe¬
renzen den Umgang miteinander oder
gibt es einen Austausch, eine Diskus¬
sion?
Dimitri: Es gibt Verbindungen, aber
nicht viele. Die griechische anarchi¬
stische Bewegung ist leider sehr stark
von den deutschen Autonomen
beeinflußt. Deshalb haben sich die
griechischen Anarchisten seit vielen
Jahren im Protest erschöpft. Es sind
vor allem junge Menschen, die zu
Demonstrationen gehen, Bankenfen¬
ster ein werfen und auch Straßen¬
kampfdurchführen. Es läuft dann die
alte Spirale: der Staat verschärft die
Repression, es gibt Märtyrer und um
die Märtyrer entwickelt sich heuer
Protest. Aber diese Bewegung ist eine
Jugendbewegung, sie ist mit dem
Alltag der arbeitenden Bevölkerung
nicht verbunden, hat damit überhaupt
nichts zu tun. Sie haben keine Basis
und keine Resonanz in den Nachbar¬
schaften; die Griechen lesen in den
Zeitungen darüber und die Reaktion
ist, »ach die Anarchisten haben mal
wieder etwas niedergebrannt, mal
dies, mal das...« Das führt zu nichts.
Auf der anderen Seite gibt es einige
anarchistische Verleger und Intellek¬
tuelle, die mit Sozialökologen Kon¬
takt haben, gelegentlich gibt es Zu¬
sammenarbeit, aber es könnte noch
verstärkt werden. Es gibt anarchi¬
stische Buchläden, dort läuft ebenfalls
Austausch, aber eben nur unter Ein¬
zelnen, nicht mir der Jugendbewe¬
gung als solcher. Um es zu intensi¬
vieren braucht es einen Anlaufpunkt.
Seit dem internationalen anarchisti¬
schen Kongreß in Venedig 1980 hat
es nur noch einen emstzunehmenden
internationalen Austausch gegeben,
den in Portugal, als es um das Thema
" Neue Technologien und Freiheit
ging, seit Lissabon gab es außerhalb
von Spanien keine wichtigen interna¬
tionalen Treffen mehr. Ich denke, daß
die Sozialökologen jetztdieInitiative
ergreifen sollten.
Kontakt: B lack Rose Books, CF. 1258, Succ.
Place duParc, Montreal, Quebec 7/2 W
2R3, Canada
Der SF beschafft alle Bächer aus dem Black
Rose Verlag. Bereits auf Lager haben
wir:
DimitriosRoussopoulos: Political Ecology>
180 S., 30.-DM
Übersetzung: Wolf gang Ilaug
Zukunft der Stadt: LA. und Berlin
lischen Arbeits-
len Sicherheits-
Stadt und die Beschäftigung damit ist
angesagt. Radikale Linke beschäftigen
sich nicht seit dem Aufkommen von
Hiphop und den Riots 1992 mit Los
Angeles. In der linksliberalen Uni-
Stadtsoziologie ist die “Zukunft des
Urbanen” angesichts der sozialen und
ökonomischen Umbrüche, die auch als
Übergang zum Postfordismus ver¬
standen werden können, seit jeher
Thema. Das Buch “City of Quartz” von
Mike Davis z.B. wurde von der Frank¬
furter Rundschau über das Musik¬
magazin “SPEX” bis hin zur sozial-
revolutionären “wildcat” gelesen und
gelobt. Das im Herbst 1995 erschienene
Buch “Stadt der Zukunft - Zukunft der
Stadt” schwimmt einerseits auf diesem
Trend mit, andererseits hebt es sich
durch seinen Inhalt etwas davon ab.
Herausgeber Sträter, der dem nach¬
universitären Theorie-Proletariat an¬
gehört und mehrere Jahre bei der Frei¬
burger Internationalismuszeitschrift
“Blätter des Iz3W” mitarbeitete, hat in
U.A. selbstlnterviews geführt undTexte
v on US-amerikanischen Intellektuellen
Und Basisaktivistinnen zusammenge¬
stellt. Gleichzeitig versucht er durch
die Mitveröffentlichungen von fünf
Aufsätzen über Berlin, einige markante
Entwicklungen in dieser Stadt heraus¬
zuarbeiten und Parallelen und Unter¬
schiede zwischen diesen beiden Metro¬
polen zu benennen.
U.A. wird als der Prototyp der Stadt
des 21.Jahrhunderts begriffen: Die
Bläche der Stadt ist nach Einkommen
der dort Wohnenden räumlich auf-
geteilt, in ihr gibt es die meisten
Obdachlosen in den USA, die Umwelt
^ird permanent vergiftet und der kom¬
munale Staat hat sich aus seiner Ver¬
antwortung für die Gesellschaft zu¬
rückgezogen. L.A. ist die Hauptstadt
der “Dritten Welt” und eine der “World
Oities” der Metropolen zugleich, L.A.
wird gleichzeitig de- und reindustria-
Bsiert und es ist wie kaum eine andere
Stadt in die globale Wirtschaft inte¬
griert. L.A. istZiel und Auslöser großer
Bewegungen von Wanderarbeiterinnen
Un d ein Reich der Schattenarbeit und -
Ökonomie der arbeitenden Armen (“la-
bouring poor”) und es ist auch durch
sein Polizei- und Gefängnissystem zu
beschreiben bzw. in Filmen massen¬
wirksam beschrieben worden.
All dieseEntwicklungen und sozialen
Konflikte werden in den einzelnen In¬
terviews und Artikeln beleuchtet und in
Beziehung gesetzt, Das Spektrum der
Autorinnen zu L.A. ist sehr breit, es
reicht von Edward Soja, Professor für
Stadt- und Regionalplanung an der
Universität von LAüber die deutsche
Stadtsoziologin Margit Mayer bis zu
alten Ex-Black-Panther-Mitgliedem,
die heute noch in der Community aktiv
sind. Interessant istder Beitrag “Racism
comes in Birkenstocks” weil er zeigt,
daß die Kontrolle flber Wasser, Luft
undMobilitätein wesentliches Element
der politischen Machtverhältnisse in
L.A. ist und wie Umweltschäden auf
bestimmte ethnischefund soziale Re¬
gionen und Gruppenabge wälzt werden
und “Umweltschutz” somit rassistisch
wif
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53
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o*
3T
I
Cjs
ci?
Das Buch liefert zur Beschäftigung
mit Ökonomie und sozialen Kämpfen
im städtischen Raum aus unterschied¬
lichen Bereichen und Blickwinkeln
weitere Materialien. In einigen Bei¬
trägen oder Interviews mit Professoren
wird mit soziologischen Begriffen und
Wortneuschöpfungen um sich gewor¬
fen, grundsätzlich ist ein eher unauf¬
geregter Grundtenor vorherrschend.
Sträter propagiert durch die Textaus¬
wahl keine “politische Linie”, er lässt
unterschiedliche Ansichten zu Wort
kommen: währendeinige Beiträgemehr
beschreiben oder die Selbstorga¬
nisierung “von unten” propagieren,
verorten dritte die treibenden Kräfte
eher im (internationalen) Kapital oder
fordern gar - wie der Beitrag zu Ob¬
dachlosigkeit in Berlin - mehr sozial¬
staatliche Sicherung. Diese Vielfalt
Der Teil zu Berlin wM mit einem
Beitrag eingeleitet, der die Verände¬
rungen Berlins in den letzten funfJalyen
darstellt und die Entwicklung L.A. s
als Raster zur Betrachtung Berlins
benutzt. Berlin ist “Frontstadt an der
kontinentalen Armutsgrenze zu Polen
und den anderen osteuropäischen S taa
ten und Ziel von Migration wie es L.A.
ÄÄÄve«
und Arbeitsiparktlage, jJie sozml-
räumliche
Berlin breitet si
aus, was
von Berlin und B
lisiertwird. Im Berlm-'I
noch Beiträge zu po
migrantlnnen, zur ne
und Polizeipolitik u“'
keit.
könnte als Beliebigkeit ausgelegt
werden, ist es aber nicht, da die Zu¬
sammenstellung nur die Vielfalt der
Entwicklungen, Orte und sozialen
Kämpfe in der Stadt abbildet. Sie
verweist auch auf das Bild der Stadt,
das der und die einzelne/n im Kopf
haben. Ist L.A. für die einen schillerndes
Forschungsobjekt, ist es für andere der
Ort, an dem sie Gewerkschaftspolitik
unter zu achtzig Prozent illegalen Ar¬
beiterinnen machen.
von Bernd Hüttner
Frank Sträter (Hrsg.): Stadt der Zukunft,
Zukunft der Stadt. Berlin - L.A.; im
Eigenverlag Stuttgart 1995; 160 S., zu
bestellen für 19,80 DM incl. Porto bei
Frank Sträter, Spemannstr. 41, 70186
Stuttgart (Vorkasse, Scheck beilegen!)
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JSCheT Widerstand rischer Wut bis zu einem 'kalten über- . angegriffen: kL
mütigen Wunsch reichten, diese Ver- mandos nahmen an allen faschistischen
brecher zu töten.” Treffen nur mit dem einzigen Ziel teil,
Die faschistische Propaganda konnte sie so schnell wie möglich zu beenden,
vom beginnenden Kalten Krieg pro- Wenn es nicht möglich war, die Red-
fitieren. Sie, die immer für ein Bündnis nerplattform umzukippen wurden unter
mit Deutschland eingetreten waren, demPublikumSäliilä^teiCTäniezettelt,
mußten sich bestätigt fühlen, wenn um ein solches Chaos zii erzeugen, daß
Churchill davon sprach, Großbritannien die Polizei schließlich zum Abbruch
hätte das falsche Schwein geschlach- der Veranstaltung gezwungen wurde,
tet .als es gegen Deutschland statt gegen Für ihre Arbeit entscheidend war ein
die Sowjetunion kämpfte. Auch aus den Aufklärungsnetzwerk, mit dem die
Auseinandersetzungen in Palästina Group 43 jbden faschistischen Zirkel
versuchten die Faschisten Kapital zu unterwanderte: So kamen sie an wich-
schlagen. Mittlerweile kämpften dort tige Informationen, milderten sie Iren
verschiedene Fraktionen der zioni- ArbeiteffekÜvifehindemkohMemZ.B.
britannien im Harald Kater Verlag fischen Untergrundarmee gegen die wurde eines abends bekannt, däß]eine
erschienen. Es macht zunächst stutzig, britische Kolonialmacht, was die Fa- Ladung faschistischer Flugblätter in
wenn von antifaschistischem Wider- sch,sten schamlos für ihre antisemi- einem.bestimmten Buchladen für eine
stand nach 1945 in einem Land, daß tischen Tiraden nutzten. Dabei profi- Nachtgelagert werden sollte. Mitglieder
niemals von deutschen Truppen besetzt beiten sie von der britischenRechtslage. der Group 43 hatten sich mit Nach¬
war, die Rede ist. Mit dem Argument, die Redefreiheit zu schlüsselnZugangzudiesemBuChladen
Tatsächlich existierte in Großbritan- verteidigen, schützte die Polizei die verschafft und das gesamte Propa-
nien seit den 30er Jahren eine faschi- Faschistinnen Hingegen konnten gandamaterialkuzerhand verschwinden
stischeBewegung.diesichan Mussolini Menschen, die allem durch Pfeifen oder lassen.
und Hitler orientierte und für eine Zwischenrufen aufgefallen sind, auf Neben der effektiven Verhinderung
deutsch-britische Kooperation eintrat. Antrag des Redners angezeigt und mit der Faschistinnentreffen setzte sich die
Diese Bewegung hatte Unterstützer in Geldstrafen oder Bewährungsauflagen Goup 43 zjwei weitere Schwerpunkte.
Teilen der Industrie und des Königs- |™ gl werden. Für Angriffe auf die Sie machte Druck auf das Parlament,
hauses, aber auch unter den Tories, der Kednerplattform drohten längere Ge- die Verbreitung Von rassistischer,
ehemaligen politischen Heimat des ^gfussträfen. Also auch hier die uns faschistischer und antisemitischer! Pro-
FasChistenführersOswaldMosley. Man ® t Arbeitsteilung. Die Staat- paganda unter Strafe; zu stellen! und
könnte denken, daß diese Bewegung _ icnen stellen tolerieren die Faschist- fand damit' vor allem bei der Basis der
spätestens mit der Niederlage des nncn u " d 8®“en um so heftiger gegen Gewerkschaften und der regierenden
deutschen Faschismus verschwunden nie Antifaschistinnen vor. Labour-Party Unterstützung. Die ianti-
ist. Das war auch die Meinung der Viele jüdischen Ex-Soldaflnnenwa- faschistische Aufklärung sowohl der
demobilisierten Soldatlnnen, die jedoch ren zunehmend frustriert über die Öffentlichkeit als auch der fascjiisti-
schnell eines Schlechteren belehrt wur- »faustische Haltung der offiziellen sehen Basis war ein weiterer Scliwer-
den. Zwar waren viele aktive Faschisten jüdischen Organisationen,die sich mit punkt. ’' l' lp
Mhrend des Krieges internierL. Doch Eingaben an die Parlamentarier be- Ab 1947 traten bei antifaschistischen
Schon 1944 begann die Reorganisation g nü f ten -Sie wollten sich nicht mit pa- Gegenveranstaltungen ehemalige fa¬
der faschistischen Strukturen. Und so Plenen Resolutionen an die Regierung schistische Funktionäre als Redner auf,
mußten die Männer und Frauen, die in begnügen, sondern den Faschistinnen die mit ihrer Organisation gebrochen
dfen vergangenen Jahren in den briti- J et ® n - . hatten. DiqsebrächtenGruppenintbrnas
sehen Streitkräften gegen die faschi- Antrnigl946alsdieFaschistenimmer an die Öffent-lichkeit und setzten damit
stische Bedrohung gekämpft hatten, mehr Zulauf bekommen hatten, ergrif- deren Führung der Lächerltchkeilaus.
nach Hause zurückgekehrt mitansehen, mn einige die Initiative und gründen Welchen Anteil die Aktionen der
wie die Faschistinnen wieder ungehin- eme Organisation, die offen war für Group 43 am rapiden Zerfall der fa¬
den auf den Straßen aktiv waren. aile ’ Faschismus und Antisemit^- schistischen Bewegung in Großbritan-
“Aus dem Kino kommend, wo die m “ s bekämpfen wollten, egal welche nien ab 1949 und ihrem baldigen Ver-
Wochenschau die Leichen von jüdi- P oh ? sche Meinung sie sonst hatten, schwinden in die Bedeutungslosigkeit
sehen Frauen, Männern und Kindern in Nach stundenlangen heftigen Diskus- hatten, läßt;ÄMi||HI|jiÄrlich
den Konzentrationslagern gezeigt wur- ® onett über den Gruppennamen kam haben innerfaschistische Rivalitäten
den, die von Bulldozern in Kalkgruben der pragmatische Vorschlag eines Teil- dazu ebenso beigetragen wie die Vor¬
geschoben wurden und dann draußen ne »mers. “Wir sind 43 Leute hier. Also änderungen der politischen Rahmen-
an FaschiStenver^mhingen vorbei- bedingungen nach dem Abzug der
zukommen oder Hakenkreuze an jüdi- Vom Mara 1946 bis April 1950führte Briten aus Palästina. Allerdings hat die
sehe Häuser oder Synagogen geschmiert dieGroup43 einen permanenten Kampf Gruppe ^litpa in
zu sehen, führte bei diesen ehemaligen gegen d * e Faschistinnen. Bis zu 15 Großbritannien zu schaffen, daß auch
Söldaten zu Gefühlen, die von chole- faschistische Treffen pro Woche wurden dem/der IfäniAHnlä, MÜChictim/en
roßbritannien
—
SsÜ'll ■ :
$0mM
W9§-
•drängt wurden. Polizei-
Peter Nowak
gezeigt hat, daß er überall auf Wider¬
stand stoßen würde»
Einige Informationen reizen zum
Weiterforschen. So werden deutsche
Kriegsgefangene erwähnt, die sich stolz
ihrer SS-Vergangenheit rühmten und
e ine maßgebliche Rolle in den faschi¬
stischen Organisationen spielten und
schon auf ihre Arbeit in Deutschland
vorbereitet wurden. Auch ein inter¬
zonales braunes Netzwerk* mit
Kontakten nach Lateinamerika und
Südafrika wird am Rande erwähnt,
ebenso die Existenz der esoterischen
Nazigruppe Ostarte.
Hier wären Kurzhinweise sinnvoll
gewesen. Die Kurzbiographien von
einigen britischen Faschistinnen reichen
n ur bis 1950 und sind so für weitere
Recherchen wenig ergiebig. Allerdings
handelt es nicht um ein Geschichtsbuch
sondern um den Bericht eines ehe¬
maligen Group-43 Mitglieds, der ein
nichtiges Kapitel der britischen Nach¬
kriegsgeschichte dem Vergessen ent¬
rissen hat.
von Peter Nowak
Morris Beckmann, The 43 Group, Anti¬
faschistischer Kampf in Großbritannien
1946 -1950, HaraldKater Verlag, Berlin
1995, 206 Seiten, br, 25 DM
btr. Braunes Netzwerk. Anm. der SF- ; vg
Redaktion:
Gemeint ist damit die von Otto Skorzeny
geführte Organisation ÖDES S A (Orga- ;
nisation der ehemaligen SS-Ange- gi
hörigen), die vielen Nazis die Flucht ins ^
sichere Ausland, d.h. in den Nahen
Osten, nach Lateinamerika und ins da- ^
malige Franco-Spanien ermöglichte. .
ScoTzeny selbst hatte als ein Sabotage¬
spezialist für das ehemalige Reichs- -wjj
Sicherheitshauptamt gearbeitet und
wurde nach dem Krieg Generalvertreter
der österreichischen Firma VOESt für ^ ||
Spanien und Lateinamerika. Die ^|||
Organisation ODESSA hatte
Menschen auch Geld ins. Au$laUd
geschafft, sie gründete zahlreiche
men, die als Vehikel für die Reörga-
nis ation des Faschismus benutzt wurden. ; ;'|j
Scorzeny und seine illegale Truppe ||l
waren an zahlreichen faschistischen
Aktionen und Neugründungen der Nach- ^g|||
kriegszeit beteiligt, einige haben l§|vgg|
überlebt und arbeiten heute noch, wie
z.B. die spanische CEDADE, die
m Madrid ein internationales Faschi-
stentreffen organisierte., ’
rdistan Ein Fotobuch von R. Maro
ausden a
Kurdlnii
Türkei,
dem Iral
Grenzzii
bilden.
Viele
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Zeitschi:
änderet!
ewigwäl
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Aus der
Hg.: medico international, 128 S„ edition
ID- Archiv, Bin 1995,28,- DM
sächlich
gen und
iüpft mit
:heinbar
reibung,
ung und
entsteht
dichkeit
Ihre Gesichter sind gezeichnet von der ringer ist beinahe anachronistisch: Es
Erniedrigung des täglichen Krieges und gibt noch eine (oder wieder?) sozial-
doch spricht aus den Gesichtern dieser dokumentarische Fotografie. Bilder die
Frauen eine große Würde. Die Würde soziale.Realität zeigen, wenn auch nur
des Überlebenskampfes. Kein Schein- diesen einen wirklichen Augenblick
Szenario wie viele Menschen hier in lang, der im Suchereiner Kamera sicht-
Deutschlanddenken,sondemeinewirk- bar ist. Nicht weit entfernt vom Ge-
liche Welt menschlicher Anstrengung^ schdhen, nicht verborgen hinter <fer
um in ihrem “Kurdistan” leben zu kön- Distanz einer Optik, oder nicht durch
nen. Diese soziale Realität hat ihre ei- den Blick aufs Exotische verklärt er
genen Bilder, zum Beispiel: «Kurdische zählt das Buch mit menschlicher Nähe
Frauen warten auf die Lebensmittel- vom Leben der Kurdinnen. Mit einer
Verteilung.” Ihr Blick sagt: Wir warten intimen Kenntnis der Verhältnisse Und
•nur noch einen Moment, dann holen das über sehr lange Zeit hihweg. Über
wir uns das Notwendige selbst. Das zehn Jahre lang. Mit dem Blick des
könnte ihre Haltung sein auf dem Foto Vertrauten, des Eingeweihten, des Be¬
aus Kurdistan-Irak 1992, mehr als ein teiligten. Solche Fotos kann vielleicht
Jahr - im Krieg - nach dem Golfkrieg, nur jemand machen, der aus der Feme
Hier ist kein sozialromantisches kommt, doch der nicht als Fremd«- oitt
Fotobuch auf der Suche nach Träumen
entstandet. Allein dieseseine Bildzeigt,
daß es eine sinnliche und menschliche
undrespektvolleDarstellungsweise des
sozialen Alltags gibt, die mehr als nur
das Elend zeigt.
Das Unerwartete an dem Fotobuch
von R. Maro mit Texten von R.Ofte-
ürUNin
tann und
ägen der
igen, die
wurden.
Giftgas-
mologie
jm Hus-
rfen hat.
Bruder-
Bürger-
ressens-
Kurdist
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UN und
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Andere
angriffe
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krieg in
krieg d<
gruppeij
Ist die
lieh endlos? Besteht Kurdistan nur aus
dem Kreislauf von Zerstörung, Vertrei-
bung, Wiederaufbau? Nein! Diese Bil¬
der erzählen auch immer wieder vom
sozialen Gefüge der Frauen, der Männer
und ihrer Kinder untereinander, ihrer
Hoffnung auf ein Leben unter würdigen
Lebensbedingungen. Eben der Würde
der Frauen, die ihr Gesicht zur Hälfte
hinter einem Tuch verdecken und
scheinbar endlos warten.
Viele dieser Fotos sind bekannt. Ob
es die Minenbilder im alltäglichen ge¬
wordenen Nachkrieg sind, die so grau¬
same Vesrtümmeiungen zeigen oder
die Flüchtlingsbilder ganzer Familien
Mit der Auswahl der Texte und den
detaillierten Kenntnissen von R. Ofte-
ringer gelingt den Autoren des Buches
aktuelle Entwicklungen der politischen
Situation in “Kurdistan” geben können.
Ein Buch, das Interesse weckt sich mit
Innen um ihre Vergangenheitund ihre
Zukunft weiter zu beschäftigen. Ein
nalistischen Mainstream in Deutsch-
Foto: R. Maro/ Version
HerbySachs
■ ;. r ; . »• * -Ivjv • •.' ■ *' I ' »' ' .
VPpPP p ^pflPS'PffPPP?of
Nachläs!
4 Hände
Vier Hände sind zu wenig. Das ist keine
Hochstapelei, das ist eher gewaltig un¬
tertrieben. Dieser Mensch hat minde¬
stens 13 Hände zum Schreiben benutzt.
Und jede Hand an einem anderen Ort,
in einem anderen Spiel, während anderer
Ereignisse, atemlos schnell wechselnd,
von den absurden Episoden eines Stan
Laurel an der mexikanischen Grenze
mit acht Flaschen Genever im Koffer
Ws zu den fein gewobenen Netzen der
Birma, dem CIA, und allen Klischees,
die dazugehören. Schneller, besser,
höher, Paco Taibo II hat sich, ironisch
zeitgemäß, den Mainstream der Super¬
lative als Struktur seines Romans ge¬
nommen und herausgekommen ist eine
wirklich gigantisch anmutende Story.
Auf der Spurensuche durch dieses
Jahrhundert hat er gewiefte und hart¬
näckige Politgauner mit überzeugten
Kommunisten während des spanischen
Bürgerkriegs ebenso gemeinsame Sache
Aachen lassen wie zwei Journalisten,
die ihre Geschichten zusammen schrei¬
ben, tendenziös, radikal und provokativ,
heute, gestern und während der ereig¬
nisreichen Revolution in Nicaragua.
Uenn sie sind mehr als Sympathisanten
dieser Revolution, auch wenn ihnen
ihre Überzeugung öfters einen Schreck
e *njagte. Doch der größte Coup ihrer
Unufbahn gelingt ihnen bei einer eher
zufälligen Recherche.
Wußten Sie, daß Trotzki im Exil in
Mexiko einen Krimi schrieb, ja sich
danach verzehrte, einen schlüssigen Plot
Elr seine Geschichte zu entwickeln?
Haß er sich morgens Notizen vor seiner
ei gentlichen Arbeit an der Stalinbio-
8 r aphie machte und sie heimlich, klamm
und leise in eine gut versteckte Kladde
schrieb? Mein Grinsen wurde immer
breiter. Klasse Idee!
Hoch das sind längst nicht alle
Absurditäten, die der Roman zu bieten
bat. Elena Jord#n zum Beispiel, die
zweimal geschiedene Frau des Jour-
n alistcn Julio, schreibt seit ewigen
Seiten immer wieder aufs Neue Disser-
tetionsvorhaben und reicht sie ein. Sie
sammelt die Ablehnungen wie Post¬
karten. Oder die Episoden über Alex,
den Chef der Operation Schneewittchen,
den biederen Strippenzieher, Therapie¬
patienten und klugen Intriganten der
sieben Zwerge, der undichte Stellen in
der agency anhäuft.
Desinformation heißt seine Devise
nach innen wie nach außen. Ganze
Bücher werden von ihm lanciert Fal¬
schen Persönlichkeiten wird kurzerhand
Leben eingehaucht, denn sie sollen auf¬
gebaut werden zu internationalen Ver¬
schwörern, Politikern urtd Drogen¬
händlern. Später dann fallen sie als
Kokainbosse in die “Höllenküche des
Geheimdienstes und finden^sic^er-
Auch die bejröhmt berüchtigte Latem-
amerika-Abteilungder agency kann sich
gielungTn emdsenrich das eine oder
andere h
Geheimdienst!
te. "
Doch was ist.
bens- und kamj
einem
sehen
Anarchisten i
sehen Fotogrc
tantenverein!
“ Und auch, wenn wir hier einen
Roman hätteCPi^^f 0 ” 13 ?’^ 1
der Dicke und ich niesc hrwhpn wurden.
Ein wunderbarer vierti
den wir nicht l|i§§E^- • ■ ^ ,
offenem Ende, in dessen Zenteum In¬
formationen und journalistische Ethik
und Geschichten stünden, die man kenn
undnichtkennt, und eine Stadt in der es
pausenlos regnet, mit einem Hang-zur
Katastrophe, und ein sandmistischer
Kommandant, der mit so einem glück¬
lichen Gesicht ein zweites Sandwich
mit Serranoschinken ißt, daß er kein
CIA-Agents
: J|Ö! ! gegen die le-
ifetprobte Allianz aus
V einem kommunisti-
i, einem spanischen
hemüs-amerikani-
einDilet-
wPPte#'-v ,i. • .
.. h.
3? St ?Z™ orbeL Fas t alles!
"
4 Hände von Paco Ignacio Taibo II. Verlag
der Buchläden Schwan Risse/Rote
Hamburg
Die sozialdemokratische Friedrich-
Ebert-Stiftung hatimk.G. Saur Verlag,
München ein umfangreiches »Inventar
zu den Nachlässen der deutschen Ar¬
beiterbewegung« herausgegeben.
Verantwortlich zeichnet Hans-Holger
Paul, der als Ziel formuliert, “der For¬
schung zur Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung einen Zugang zu
Quellen zu ermöglichen, die insbeson¬
dere in der wissenschaftlichen Aufar¬
beitung der Geschich te der Weimarer
Republik, der Arbeiterbewegung unter
derHerrschaftdesNationalsozialismus
und imEnl sowie in der Geschichte der
Bundesrepublik nach 1945 eine Be¬
deutung erlangt haben," Dabei sollen
Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung
“im weitesten Sinne” aufgenommen
werden, “die Spanne reicht von Per-
sönlichkeitender äußerstenLinken,z£.
Rätekommunisten, über Sozialdemo¬
kraten, Mitglieder sozialer Bewegun¬
gen, der Frauenbewegung bis zu
christlichen Gewerkschaftern und
Sozialpolitikern.’' -
Die große Einschränkung besteht
darin, daß nur die Nachlässe erfaßt
wurden, die “in allen Archiven und
Bibliotheken der Bundesrepublik und
: W40ßet$ns in den Grenzen vor dem
3. Oktober1990" aufgenommen wurden
und daß das eigene Archiv derFriedrich-
Ebert-Stiftung ebenfalls unberücksich¬
tigt blieb. Letzteres soll in einer eigen¬
ständigen Veröffentlichung aufbereitet
werden, Ob und wann die Archive der.
ehemaligen DDR ebenfalls in diesem
Sinne gesichtet werden und ob eine
Bestandsaufnahme gerade der interna¬
tional vorhandenen Nachlässe geplant
ist, bleibt leider unerwähnt. Für eine
sinnvolle Exilforschung wären aber
gerade die Nachlässe derjenigen inte¬
ressant, die Deutschland in den 30er
Jahren verlassen mußten. So ist es auch
nicht weiter überraschend, daß z.B. der
Name Rudolf Rocker in diesem Band
niemals auftäucht, da dessen Nachlaß -
wie der vieler Anarchistinnen - z.B. im
IISG in Amsterdam lieet.
Die eintausend Seiten (!) beginnen
, einem Wirtschafts-
ftler und Gewerkschafter,
der wegen FDGB-Kontakten 1957 aus
der SPD ausgeschlossen wurde und ab
1960 bei der DFU mitarbeitete. Neben
einer politischen Kurzbiografie nennt
Standort des Näch¬
ten DGB in Düs-
181 !
Ü
üil
■: : . . *
ßlÜPlillÄ
und! beschreibt dessen ungefähren Ihr
halt, also Presse- und Agenturmel¬
dungen, Materialien zum Prozeß, Soli¬
daritätserklärungen,Korrespondenzetc.
Die wichtigsten Korrespondenzpartner
werden aufgezählt, also hier z.B. Bun¬
deskanzler, Bundesamt für Verfas¬
sungsschutz etc. Anschließend werden
noch besonders wichtige Korrespon¬
denzinhalte genannt.
Der Bundesgrenzschutz
und die deutscne Ostgrenze
ß*od«r d«r ofttfranlitls<h«ft Fahrrad- vrtd Aktionslour
15.-22. Juli 1995 Zittau-Frankfurt/Oder
Herauagegoben v«it dun Toilnohmerlnnen der Tour
...der Reeder verein?: die InPörmtööOften,, efie'/**'
uiir ujöhrend deir ontfrosslstisched fohrradtour
sammelten, unsere Sffbhfungen miit der Proxfö
des BGS Ort der: Ostgrenze
und allgemeine Texte Ober
den 8GS, die Grenze und
den UUiderstand dage
Inhalt:
Beripht von der Tour / Europäi¬
sche: und deutsche Ahsehot’
lungspotitik / Geschichte des
BGS t BGS an der Ostgrenze /
Akbonsmöglidikeitert / Auswer¬
tung der Tour/ Interview mit dem
BGS-Chef desGrenzschuteam-
tes FrankhirlOder/Adresssci
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04277 Leipzig
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I ® A-Flugsohrift -
Kreis Bergstraße
14. Jahrgang, Nr, 69/Dezember 1995
Themenj Verfahren wg. "radikal" «*
Durchsuchung des Iufoladen "Schlagloch” in
Dresden ©#’ Flughafen Frankfurt, Cargo City
Süd, etc... ■ Biblis - . GorleMn ' - ;
| Kastortransporte # Bensheimer Kneipen- und
I KUZ-Scene Verfassungsschutzbericht 1994
I Kostet nix (Spenden aber willkommen) - Porto
1,50 DM.
I : . Kontakt:
GdF * c/o Infoladen Miskito - im AZ
Heidelberg - Alte Bergheimer Straße 7a -
69115MÄieFgl s . \
I Nr. 70 erscheint Ende Februar - Anfang März
1996 . ■ . - < ; .
SF 1/96
Gibt es einen zweiten Standort be¬
ginnt, dieses Verfahren anschließend
von Neuem, im Fall Agartz schließt
sich das Bundesarchiv Koblenz an.
Das sieht auf den ersten Blick alles
sehr brauchbar aus und diese Ein¬
schätzung wird für alle an der Erfor¬
schung der Sozialdemokratie Arbei¬
tenden auch zutreffen. Ein Inventar muß
sich aber auch daran messen lassen, wie
sorgfältig es mit den “Randerschei¬
nungen” umgeht und dabei wird esdoch
erstaunlich dünn.
Die Freie Arbeiter Union wird nur ein
einziges Mal erwähnt und schlägt
mensch unter der S .469 nach, dan n stellt
sich prompt heraus, daß es sich um
einen Briefwechsel derFAU mit Niko¬
laus Osterroth, einem SPD-Berg-
arbeiter, Gewerkschafter .und preu-
ßischen Landtagsabgeordneten handelt.
Auch einen Fritz Kater-Vertag oder
einen Syndikalist-Verlag sucht mensch
vergebens, dafür ist die Freiwillige
Feuerwehr Ulms verzeichnet.
Kurz und gut, die Forschung nach
Anarchistinnen und anderen Linksra-
dikalenbleibtauch nach diesem Inventar
weitgehend unsere Sache, d.h. mühe¬
volle Kleinarbeit Hilfreich ist das
Inventar in diesem Bereich nur bei den¬
jenigen Persönlichkeiten, die in ihrer
Vita irgendwann einmal “Vorsitzender
in einem Arbeiter- und Soldatenrat”
gewesen sind. Schlägt mensch diese
Stichworte nach, finden sich so inte¬
ressante Persönlichkeiten wie z.B. Emil
Barth. Doch auch Hier setzten sich leider
die Verlieben der Bearbeiter durch.
Barth wurdezwaram 23.4.1879 geboren
und seine Klempneriehrc wird erwähnt,
doch sein politisches Leben scheint 1914
begonnen zu haben, dann jedenfalls
wurde er Funktionär des Deutschen
Metallarbeiter-Verbandes (DMV)
1917 trat er der USPD bei, 1918 wurde
er Vorsitzender der revolutionären
Berliner Obleute und Vorsitzender des
Berliner. Arbeiter- und Soldatenrats
1920 versuchte er vergeblich den An¬
schluß der USPD an die Komintern zu
verhindern und trat deshalb 1921 zur
SPD über. Ab 1922 war er Vorsitzender
der Berliner Betriebsrätezentrale.
Barth war also 35 Jahre alt, als sein
politisches Leben begann? Etwas un¬
wahrscheinlich bei der dann folgenden
Entwicklung. Es liegt demnach eher an
der Herangehensweise der Bearbeiter,
sie fanden die ersten 15 (?) Jahre nicht
wichtig genug (oder politisch zu frag¬
würdig?). Wenigstens erfährt mensch
1910 e
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929 - 1945
Teil 1 (Teil 2 erscheint in
SF-58, Teil 3 in SF-59)
von Dieter Nelles
Enthält unser zerfallendes Regime
Menschen, die Neues zu geben fähig
s fad,dann ist es diese Generation junger
deutscher Arbeiter”, 1 schrieb 1932 die
französische Philosophin Simone Weil
anläßlich eines Besuchs in Deutschland.
‘Gleichwohl unter der Voraussetzung”,
schränkte sie ein, “daß weder die
faschistischen Banden noch einfach
Junger und Kälte sie des Lebens
berauben oder zumindest jener Energie,
die die Quelle des Lebens ist”. 2 Kurze
Zeit später kamen die Nationalsozia¬
listen an die Macht und eine nicht uner¬
hebliche Zahl der von Weil so empha¬
tisch beschriebenen Arbeiterjugend
fand sich wieder in Konzentrations-
fagem -und Zuchthäusern - unter ihnen
fastalle Mitgliederder Syndikalistisch-
anarchistischen Jugend Deutschlands
(SAJD) aus Wuppertal. Doch nicht nur
u nter diesem Gesichtspunkt ist diese
kleine Gruppe am linken Rand der
Arbeiteijugendbewegung von Interesse.
Die Wuppertaler SAJD verband die
nrehr bildungsorientierte der soziali¬
stischen Jugend mit der mehr aktivi-
stischen Motivation der kommunisti¬
schen Jugend zu einer neuen Mischung:
e iner antiautoritären Arbeiterjugend. Im
Gegensatz zur Organisations- und
Ideengeschichte, stellte Peukert fest, ist
die Sozial- und Erfahrungsgeschichte
der Arbeiterjugendbewegung “noch
unterbelichtet” und “noch nicht über
de n Stand der zwanziger Jahre hinaus¬
gekommen”. 3
Im folgenden Beitrag soll unter einer
sozial- und erfahrungswissenschaft-
^iehen Perspektive die Geschichte der
SAJD in Wuppertal zwischen 1929 und
1^33 und der Widerstand und die Ver¬
fügung ihrer Mitglieder während des
Nationalsozialismus dargestelit wer¬
den, 4
Alle Fotos: Archiv Dieter Nelles
Helmut Kirschey und Paula Berater
gegenüber der Erwachsenenorganisa-
Entstehung, Milieu und tion ihre Autonomie. So schrieb das
Zusammensetzung der FJM-Mitglied Walter Tacken, es sei
Wuppertaler SA J D unmöglich mit einigen “älteren Genos-
sen zusammenzuarbeiten”, weil diese
Seit 1920 existierten im Gebiet des
heutigen Wuppertals, in Barmen,
Elberfeld und Sonnbom, syndikali¬
stisch-anarchistische Jugendgruppen. 5
Im Unterschiedzu den übrigen radikalen
Arbeiterjugendorganisationen hielt die
anarchistische Jugendbewegung an drei
Prinzipien fest: An der Autonomie der
Jugend, an der Dezentralisation als
Organisationsprinzip und an der Nicht¬
zugehörigkeit zu einer Arbeiterpartei.
Die Betonung der Jugendautonomie
brachte die Elberfelder Gruppe, die laut
Polizeiberichten “in der Jugendbe¬
wegung am rührigsten war” 7 , in ihrem
Namen zum Ausdruck: Freie Jugend
Morgenröte (FJM).
DieFJM übernahm Formen, Trachten
und zum Teil auch Lieder der bürger¬
lichen Jugendbewegung, aber zugleich
standen diese Jugendlichen in völlig
anderen theoretischen und praktischen
Zusammenhängen. Denn neben Spie
und Wanderung” sollte die Jugend mit
den “Ideen des Syndikalismus und
Anarchismus vertraut gemacht wer¬
den”. 8 Die Jugendlichen waren zum
Teil auch Mitglieder der anarchosyndi-
kalistischen Freien Arbeiter Union
Deutschlands (FAUD), die zu diesem
Zeitpunkt noch über 1000 Mitglieder
im Wuppertal hatte. 9 Aber sie betonten
versuchten, der Jugend “einen Zwang
aufzuerlegen”, dem sie sich als "Revo¬
lutionäre nicht fügen wollten”. Zudem
stamme“Erfahrungder Alten” aus einer
“ganz alten Zeit”, nicht aber aus der
gegenwärtigen “revolutionären Epo¬
che”, in der die Jugend ihre Erfahrungen
selbst sammeln würden. 10 “Revolutio¬
näre Epoche”, dieser Begriff hatte hier
einen doppelten Bezug: Zum einen die
revolutionären Massenbewegungen der
Arbeiterschaft und zum anderen die
Suche nach eigenen Widerstands- und
Lebensformen - “Erkennende Jugend
ist Revolution”! 11 Es überrascht daher
nicht, daß die FJM nach der Stabili¬
sierung der politischen und ökonomi¬
schen Verhältnisse in den Jahren 1924/
1925 zerfiel. Einige ihrer Mitglieder
blieben aktiv im Rahmen der FAUD
und der anarchosyndikalistisch beein¬
flußten Gemeinschaft proletarischer
Freidenker (GPF), die Anfang der 30er
Jahre in Wuppertal circa200 Mitglieder
zählte. Andere bildeten bis 1933 einen
“Debattierzirkel” am Arbeitsamt oder
auf der Straße am Elberfelder Neumarkt,
und waren bekannt und belächeltals die
Wuppertaler “Kakaophilosophen”.
Ende der 20er Jahre war die FAUD in
Wuppertal nur noch eine kleine Gruppe
von circa 50 Mitgliedern. Von der SAJD
SF 1/96 [61]
existierte 1928 noch eine kleine Gruppe
von sechs Jugendlichen um die Brüder
Fritz »Willy und August (Eugen) Benner
in Barmen. 12 Ende 1929 vereinigte sich
diese Gruppe mit einigen Jugendlichen
aus Elberfeld zur SAJD Wuppertal. Der
überwiegende Teil der Elberfelder
Jugendlichen hatte vorher familiäre und
freundschaftliche Kontakte zu älteren
Anarchosyndikalisten oder zu ehema¬
ligen Mitgliedern der FJM. Hans
Schmitz und Ernst Steinacker waren
sozusagen in der anarchosyndikali-
stischen Bewegung groß geworden. Sie
waren in einer Kindergruppe der FJM.
Ihre Eltern Hermann Steinacker (1870
-1944) und Hans Schmitz (sen.) (1892
- 1931) waren die herausragenden
Persönlichkeiten der Wuppertaler
FAUD und zugleich auch die Mentoren
der SAJD.
Die SAJD in umfaßte 1930 ca. 10
Jungarbeiter und 5 Lehrlinge im Alter
von 16 - 22 Jahren. Die männlichen
Mitglieder waren weit in der Überzahl.
Es gab nur drei Mädchen in der Gruppe,
von denen eine nach kurzer Zeit austrat.
Die Mädchen waren auszubildende
Näherinnen bzw. Schneiderinnen - unter
den Jungen war ein Dreher- und ein
Anstreicherlehrling, sowie ungelernte
und Gelegenheitsarbeiter, Tapeten¬
drucker, Anstreicher, Bauarbeiter und
Werkzeugmacher. Die meisten von
ihnen wurden im Verlauf der Krise ab
1930 arbeitslos. Es gelang der Gruppe
nie in größerem Maße, fernstehende
Arbciterjugendlicheanzuziehen und zu
organisieren. Sie blieb ein ‘verschwo¬
rener Haufen’ mit starkem Zusammen¬
halt nach innen und klarer Abgrenzung
nach außen. Außer den Brüdern Helmut
und Hans Kirschey und H.S., die sich
1931 vom Kommunistischen Jugend¬
verband gewann die SAJD keine festen
Neumitglieder. Im Falle der Brüder
Kirschey ist es bezeichnend, daß diese
über familiäre Kontakte zur SAJD
kamen. 13 Insbesondere die Mädchen
hatten einen schweren Stand in der
Gruppe. So war ein scharfer Abgen¬
zungspunkt von den übrigen Jugend¬
organisationen, daß man(n) keinen
“Poussierclub wie die Sozialistische
Arbeiterjugend oder die Bürgerlichen”
haben wollte. 14 Die beiden Mädchen,
die längerfristig bei der Gruppe blieben,
waren durch Mutter bzw. Bruder schon
als Kinder zu politischem Engagement
angeregt wurden. “Den meisten Mäd¬
chen war das ein zu trockener Diskutier-
und Aktionsclub - und das Tanzen gehen
usw. war ja verpönt; außerdem hätten
unsere Jungs da auch gar kein Geld für
gehabt.”
Alltag und Politik der SAJD
zwischen 1930 und 1933
Die Mitglieder der SAJD waren fast
täglich zusammen. In Unterbarmen
bauten sie in Selbsthilfe ein “Jugend¬
heim”, eine Hütte im Garten eines
Genossen. Hier wurde nächtelang dis¬
kutiert und gesellig zusammen gesessen,
“einige versuchten sich auf der Gitarre
und wir haben oft Jugendbewegungs¬
und Arbeiterlieder gesungen, mehr laut
als schön.” In der Gruppe herrschte ein
überaus starkes Bildungsbedürfnis;
“Wir lasen, was uns in die Finger kam,
Bakunin, Kropoptkin, Rocker, Müh¬
sam, Sinclair, Jack London, Dosto¬
jewski, auch das ‘Kapital’ und auch
Brehms Tierleben. Wir wollten doch
wissen, wie alles zusammenhängt. (...)
Das war einfach ein wunderbares Ge¬
fühl, daß man alles lesen konnte!”
Gustav Krüschedtberichtete übereinen
normalen” Tagesablauf im Jahre 1930.
“Morgens mußte ich um 6 raus. (...)
Nach der Arbeit haben wir uns meistens
gleich irgendwo getroffen - damals war
ja immer was los: Schlägereien mit den
Nazis, Diskussionen am Rathaus mit
den Kakaophilosophen, Flugblätter
machen oder verteilen, am Gewerk¬
schaftshausoder auf der Straße abends
gingen wir immer zu den anderen Orga¬
nisationen in ihre Versammlungen, um
uns da einzumischen. Oder wir waren
unter uns zusammen. Ich bin damals
glaub ich selten vor zwölf ins Bett
gekommen - und dann habe ich noch
bis3gelesen. (...)Nee Langeweile haben
wirniegekannt.” Bei den Mädchen war
der Anteil an Zeit für ihre eigene Person
deutlich geringer. “Nach der Arbeit, da
hieß es erst einmal einkaufen und die
Küche machen, und da gabs ständig
noch was zu flicken und in Ordnung zu
bringen.”
Die älteren Genossen der FAUD
wurden häufig zu Diskussionen einge¬
laden. Obwohl die SAJD auf ihre Auto¬
nomie gegenüber der Erwachsenen be¬
stand, wurden einige ältere Genossen
doch als Fachautoritäten” anerkannt
und prägend für die poli üschc Entwick¬
lung der Jugendlichen. Hans Schmitz
(sen.), ein mitreißender Redner, der die
militante Tradition des Anarchosyndi¬
kalismus verkörperte und Hermann
Steinacker, der sich noch während des’
Sozialistengesetzes der sozialistischen
und später der anarchistischen Bewe¬
gung angeschlossen hatte. Steinackers
Schneiderstube stand für die Jugend¬
lichen offen und war der Ort zahlreicher
Diskussionen. Er und Schmitz (sen.)
gehörten zu den wenigen Erwachsenen,
erinnerte sich rückblickend Paula Ben¬
ner, “von denen man Antworten auf
Fragen bekam”. 1
Mit einfachsten Mitteln entfalteten
die Jugendlichen eine rege Öffentlich¬
keitsarbeit. Auf einer alten Wäscher,
Wringmaschine im Keller von H.
Steinacker wurden neben Flugblättern
auch Plakate hergestellt. Die Gruppe
fertigte Portraitpostkarten von Bakunin,
Kropotkin und Landauer an, die sie
verkaufte. Kurzfristig wurde mit Hilfe
dieser eigenen ‘Druckerei’ auch der
Versuch einer Betriebszeitung gestartet:
Die Jugendlichen schrieben oder sam¬
melten Lehrlings- und Jungarbeiter¬
korrespondenzen, die dann von Be¬
triebsfremden vor den betreffenden
Firmen verkauft wurden, so bei der
Aktenordnerfabrik ‘Elba’ und einer
Schneiderei, in der “nur Frauen und
Mädchen ausgebeutet wurden.” Im
Jahre 1931 lag die Bezirksinforma¬
tionsstelle der SAJD in den Händen der
Wuppertaler Gruppe und auf deren
Initiative wurde der Aufruf ‘An die
proletarische Jugend’ in 3000 Exem¬
plaren gedruckt und unter die regionalen
Gruppen sowie in Wuppertal verteilt.
Dieser Aufruf war bereits 1929 als
Beilage der Zeitung ‘Junge Anarchisten 1
erschienen und signalisierte die poli¬
tische Hinwendung der SAJD zu öko¬
nomischen und politischen Tagespro¬
blemen der Arbeiterjugend.
Das Jahr 1931 muß als Höhepunkt
der Aktivitäten der Wuppertaler Gruppe
angesehen werden. Die Jugendlichen
bereiteten zusammen mit der FAUD
eine große ‘Sacco und Vanzetti’-Kund¬
gebung vor, zum 4.Jahrestag der
Hinrichtung der italienischen Anar¬
chisten in den USA. 15 Die gesamte
Gruppe studierte monatelang Erich
Mühsams Theaterstück ‘Staatsraison 1
ein, daß den Justizmord an Sacco und
Vanzetti zum Gegenstand hatte. Regie
führte der damals 23-jährige Werkzeug-
[62] SF 1/96
!
Bacher Alfred Schulte, der sich dafür
arT * Düsseldorfer Schauspielhaus bei
^olfgang Langhoff Rat holte. Das
Stück wurde ein voller Erfolg. Die
Stadthalle Elberfeld war nach ihren
c igenen Angaben “voll”; man wieder¬
holte deshalb die Aufführung wenige
Wochen später vor “circa 200 Zu¬
schauern” im Hotel Hegelich in Bannen.
Erwähnenswert ist, daß auch in der
s AJD das jugendbewegte Element
durchaus lebendig war. Gemeinsam
^urde, zu Fuß oder mit dem Fahrrad, an
den großen regionalen Treffen der
Jugend teilgenommen, so auf den Düs¬
seldorfer Rheinwiesen, am Rhein bei
Leichlingen oder am Harkort. Politisch-
ideologisch grenzte sich die SAJD von
den anderen Jugendorganisationen der
Arbeiterbewegung scharf ab. So beka¬
men die S AJD-Mitglieder wegen ihres
Engagements für die in der Sowjetunion
inhaftierten Anarchisten wiederholt zu
hören. “Bis zur Revolution kann man
Euch brauchen - aber danach seit ihr die
Ersten, die an die Wand gestellt wer¬
den.” Wegen des Austritts aus dem
Kommunistischen Jugendverband von
Helmut Kirschey, der aus einer der be¬
kanntesten kommunistischen Familien
in Wuppertal stammte, kam es sogar zu
einer handfesten Prügelei zwischen den
Jugendlichen . 16 Aber diesePrügelei war
eine Ausnahme. Ansonsten hattön sie
besonders zu den kommunistischen
Jugendlichen ein sehr solidarisches
Verhältnis, vor allem, wenn es gegen
die Nazis und die Sicherheitöpolizei
ging, mit der sie zum Beispiel 1931
aneinander gerieten, als sie gemeinsam
die Zwangsräumung einer zahlungs¬
unfähigen Arbeiterfamilie an der Para¬
destraße in Elberfeld verhindern woll¬
ten. Dabei kam es zu heftigen Straßen¬
schlachten, in deren Verlauf das Pflaster
aufgerissen und die Gaslatemen mit
Steinen ausgeworfen wurde.
Seit 1930 bestand in der SAJD m
Wuppertal ein völlig anderes Verhältnis
zur Gewaltanwendung als bei den anar¬
chistischen Jugendlichen Anfang der
zwanziger Jahre. Diese hatten, wohl
unter dem Eindruck des Krieges, häufig
pazifistische Ideen vertreten. Die zwei
Arme, die ein Gewehr zerbrechen, das
Zeichen der antimilitaristischen Bewe¬
gung, wurden besonders von den Anar¬
chosyndikalisten als ihr Symbol ange¬
nommen, als Anstecknadeln getragen
und auf Flugblättern, Zeitungen und
Postkarten verbreitet. Während viele
der früheren Jugendlichen der FJM
darunter eher das individuelle Bekenn¬
tnis verstanden, keine Waffen anzu¬
wenden und zu produzieren, wurde von
den späteren, mehr am Klassenkampf
orientierten Junganarchisten dagegen
der Vorgang des “Brechens” betont.
Dazu kam hinzu, daß die FAUD nicht
mehr die militante Sozialrevolutionäre
Gewerkschaftorganisation war, als die
sie 1919 angetreten war. Sie war aus
eigener Kraft nicht in der Lage ökono¬
mische Kämpfe zu führen, denen in
Zeiten der Weltwirtschaftskrise allge¬
mein enge Grenzen gesetzt waren. Die
Politik der FAUD konnte daher nur
bedingt eine Orientierung für die Ju¬
gendlichen sein. Die Massenarbeits¬
losigkeit und die wachsende Übergriffe
der Nationalsozialisten stellten alle
Organisation der Arbeiterbewegung vor
eine neue S itutation, in der alte Analysen
und Parolen nicht mehr griffen. Vor
diesem Hintergrund ist die Äußerung
von Helmut Kirschey zu verstehen: “In
Berlin oder Krefeld wär ich nicht zur
syndikalistischen J ugend gegangen: Die
waren da gewaltlos - aber wir waren in
Wuppertal!”
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SF 1/96 [63]
Mit der Einrichtung der S A-Kaseme
in Unterbannen in der unmittelbaren
Nähe des Gewerkschaftshauses, einer
der beliebtesten Treffpunkte der S AJD,
wuchs der alltägliche Terror gegen die
Arbeiter. - “Du konntest abends als
bekannter Sozialist da nicht mehr allein
Vorbeigehen.” Wer für einen “Roten”
gehalten wurde, mußte damit rechnen
von der SA bedroht zu werden. Parallel
zu anderen linken Arbeitergruppen
wurden von der SAJD zwei Pistolen
gekauft und die Gruppe verfügte auch
über ein Gewehr. Die Bewaffnung
wurde angesichts der konkreten Bedro¬
hung durch die SA als lebensnotwenig
betrachtet, vor allem weil sie nicht daran
dachten, durch “Stillhalten” verschont
zu werden. “Du mußt nach vom gehen,
dann tun sie Dir nix - nicht zurück!” In
den Gebrauch und die Pflege wurden
sie von einem befreundeten Mitglied
des Rotfrontkämpferbundes angeleitet.
Mit den Wanderungen und Fahrten
wurden jetzt Schießübungen verbunden,
so in einem alten Schleifkotten in
Balkhausen und auf einer Fahrt an die
Mosel. Die Mädchen beteiligten sich
nach eigenen Angaben weniger an die¬
sen Aktivitäten. Allerdings übernahmen
sie wichtige Aufgaben, als in Balkhau¬
sen diePolizei auftauchte. Die Mädchen
versteckten die Pistolen im Suppentopf
und transportierten sie auf dem Nach¬
hauseweg in ihren Kopfkissen, wo sie
eine weitere Polizeikontrolle unbemerkt
überstanden.
Ein Beispiel für die Anwendung die¬
ser Waffen zeigt der folgende Artikel:
“Nazi-Terror in Wuppertal” “In Wup¬
pertal^-Barmen haben die SA-Mannen
vom Hakenkreuz vor längerer Zeit ein
leerstehendes Fabrikgebäude in eine
Hitler-Kaserne verwandelt, von wo aus
sie ihre ‘Feldzüge* gegen die Bevölke¬
rung des Bezirks Barmen-U. eröffnen,
so daß selbst die Polizei gezwungen
war - auf Grund der dauernd einlaufen¬
den Beschwerden in dieses Mördemest
einzudringen und Haussuchungen usw.
vorzunehmen. Harmlose Straßenpas¬
santen werden grundlos überfallen.
“Tippelkunden” mit Eisenstangen zu
Boden geschlagen, weil sie den Gruß
‘Heil Hitler* nicht erwidern usw. Wie
es aber mit dem ‘Heldenmut* der brau¬
nen Mordpest bestellt ist, sobald sie auf
energischen Widerstand stoßen, davon
zeugt folgender Vorfall: am Freitag dem
13. November, abends gegen 11 Uhr,
fielen diese vertierten Elemente völlig
grundlos einige Reichsbannerleute an.
Als in diesem Augenblick fünf unserer
Genossen an dem Ort, wo die Keilerei
tobt, vorbeikamen, ließen die Banditen
von den Reichsbannerleuten ab und
stürzten sich mit lauten Drohungen auf
unsere Genossen. Dem Genossen Her¬
mann Hahn wurde miteinem Schlagring
eine tiefe Wunde dicht über dem Auge
geschlagen. Als in diesem Moment die
Horde aus der Kaserne heraus noch
Verstärkung erhielt, feuerte der 19-jäh¬
rige Jugendgenosse E. B. vier scharfe
Pistolenschüsseab und mitder Rauflust
war es vorbei. Sofort ließen dieRowdys
von den Genossen ab und 30 ‘Hitler-
Gardisten’ ergriffen vor dem vordrin¬
genden 19-jährigen Jung-Anarchisten
das Hasenpanier. Der Jugendgenosse
wurde von einer hinzukommenden
Polizeistreife verhaftet, die dann auch
noch eine Durchsuchung der Räuber¬
höhle vornahm, ohne natürlich etwas
zu finden, weil sich die Vorkämpfer des
Dritten Reichs’ in ihre geheimen Ver¬
ließe zurückgezogen hatten,diedas um¬
fangreiche Fabrikgebäude ja zur Gen üge
besitzt. Die Pressestelle des Polizeiprä¬
sidiums mußte in der hiesigen Presse
aufgrund der Aussagen der zahlreichen
Zeugen und der Empörung der Bevöl¬
kerung über die dauernde Terrorisierung
selbst zugeben, daß die Anarchosyn¬
dikalisten, die sich von einer Versamm¬
lung kommend, auf dem Heimweg be¬
fanden, von den Nationalsozialisten
völlig grundlos überfallen wurden, und
der Syndikalist B. in Notwehr vier
Schreckschüsse abfeuerte. Der Jugend¬
genosse E. B. wurde am anderen Tage
wieder auf freien Fuße gesetzt. Man
darf auf den Ausgang der Verhandlung
gespannt sein. Es ist nicht das erstemal,
daß revolutionäre Arbeiter, die sich bei
Überfällen dieser Banditen so energisch
zur Wehr setzten, drakonische Strafen
erhiel ten und die Angreifer leer ausein-
gen.” 17
Der Artikel zeigt auch die wachsende
Solidarität zu anderen Arbeitern, die
zwar ideologisch bekämpften Arbeiter¬
organisationen angehörten - in diesem
Fall dem sozialdemokratischen Reichs¬
banner -, aber vom täglichen Terror der
SA genauso betroffen waren. In Unter¬
barmen war diese Solidarität an der
‘Basis’ stark ausgeprägt und besonders
zwischen Kommunisten und Anarcho¬
syndikalisten bestand ein solidarisches
und freundschaftliches Verhältnis. 18
Durch die nahegelegene SA-Kaseme
war die Bedrohung der dort lebenden
Arbeiterbevölkerung zu groß, als das
ideologische Differenzen noch eine
große Rolle gespielt hätten.
Angesichts der militanten Auseinan¬
dersetzungen mit den Nationalsozia¬
listen verwundert es nicht, daß 1931
die SAJD Wuppertal mitälteren FAUD-
Genossen eine sogenannte Schwarze
Schar gebildet hatte. Diese bewaffnete
Selbstschutzgruppe war die anarcho-
syndikalistische Variante des Rotfront¬
kämpferbundes bzw. des Reichsban¬
ners. 19 Ausgehend von Ratibor in Ober¬
schlesien hatten sich in mehreren Städ¬
ten Deutschlands Gruppen der Schwar¬
zen Schar gebildet Ein Wuppertaler
Mitglied der ‘Schwarzen Schar’ berich¬
tete. “Wir trugen schwarze Hemden,
schwarze Hosen und Stiefel und einen
Gürtel. Mancher hat mit Schuhwichse
etwas nachgeholfen —wir hatten ja kein
Geld. Man kann sagen, das War eine
Uniform. So was hatten wir als Anar¬
chisten immer abgelehnt und viele an¬
dere Gruppen lehnten das auch weiterhin
ab. Irgendwie war das auch eine Art
Anpassung. Die Rotfrontkämpfer und
das Reichsbanner, die hatten Unifor¬
men, nur wir hatten nichts. Mit Sprech¬
chören und Liedern gingen wir vor un¬
seren Demonstrationen her oder bei den
anderen Demonstrationen mit. Die
hatten einen Heidenrespekt vor uns - sie
wußten ja nicht, wie wenige wir waren! ”
Die Schwarzen Scharen verkörperten
den neuen Geist der Militanz und Akti¬
vismus der jungen Anarchosyndika¬
listen und waren damit ein Spiegelbild
der allgemeinen politischen Militari¬
sierung in den letzten Jahren der Wei¬
marer Republik. In Wuppertal war die
Schwarze Schar ein kleiner aber wich¬
tiger Teil des proletarischen Selbst¬
schutzes und trug mit dazu bei, zahl¬
reiche Übergriffe der SA in Versamm¬
lungen und in den Straßen der Arbeiter¬
viertel zu verhindern.
In SF-Nr.58 wird dieser Beitrag fortgesetzt
“ Teil 2: Widerstand und Verfolgung
1933 - 1939
Bei vorliegendem Beitrag handelt es sich
um eine Vorabveröffentlichung. Er cr '
scheint in Kürze im Rahmen des B uches:
“Lebens- und Arbeitswelteri von Ju¬
gendlichen im 19. und 20. Jahrhundert”,
von Ute Lange-Appel, Burkard Dictz
und Manfred Wahle. Dr. Winkler Verl ag
Bochum.
[64] SF 1/96
mm
MlillMililliM
Qpiljij
Illegale Wupperlale SAID mit Düssei-
Piraten 1935
Anmerkungen
1 Weil, Simone: Unterdrückung und
Freiheit. Politische Schriften, München
1987, S. 60.
2 Ebenda.
3 Peukcrt, Detlev J. K.: Jugend zwischen
Krieg und Krise. Lebenswelten von
Arbeiterjugendlichen in der Weimarer
Republik, Köln 1987, S. 233. Zur
Organisation - und Ideengeschichte der
SAJD vgl. Linse, Ulrich: Anarchistische
Jugendbewegung 1918 -1933, Frankfurt
am Main 1976.
4 Der Aufsatz ist die erweiterte Fassung
von Klan Ulrich / Nelles, Dieter: 4 Es
lebt noch eine Flamme’. Rheinische
Anarcho-Syndikalisten/-innen in der
Weimarer Republik und im Faschismus,
Grafenau-Döffingen 1986, 2. Auflage
1990.
5 Vgl. zum folgenden Klan / Nelles: Es
lebt noch eine Flamme (1990), S. 189
234.
6 Vgl. Linse, Ulrich: Anarchistische
Jugendbewegung (1976), S. 20.
7 Vgl. Schreiben Polizeipräsident Elber¬
feld an Regierungspräsident Düsseldorf,
19. 8. 1921, in: Hauptstaatsarchiv
Düsseldorf, Reg. Düsseldorf, Nr. 15409,
Bl. 215.
8 Vgl. Schreiben Polizeipräsident B armen
an Regierungspräsident Düsseldorf, 13.
6.1921, in: ebenda, Nr. 15810, Bl. 14-
9 Zur Geschichte der FAUD vgl. Bock,
Hans-Manfred: Syndikalismus und
Linkskommunismus von 1918 - 1923.
Ein Beitrag zur Sozial- und Ideenge¬
schichte der frühen Weimarer Republik.
Darmstadt 1993. Rübner Hartmut:
Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-
Union Deutschlands. Eine Studie zur
Geschichte des Anarchosyndikalismus,
Berlin 1994; Klan/Nelles, Es lebt noch
eine Flamme (1986, 2 1990).
10 Vgl. Die Schöpfung, Sozialrevolutio¬
närs Organ für das sozialistische Neu¬
land, 12. 7.1921.
11 Ebenda.
n Vel. zum folgenden, Klan / Nelles: Es
lebt noch eine Flamme (1986), S. 234-
267; Nelles, Dieter: Nachruf auf Eugen
Benner, in: Schwarzer Faden. Viertel-
jahresschrfit für Lust und Freiheit, r.
29,4/1988, S. 58-61.
13 Vgl. Nelles, Dieter: Helmut Kirschey.
Ein Leben im Widerstand, in: Wupper-
Nachrichten, Nr. 4/1993, S. 7.
14 Soweit nicht anders zitiert beziehen sich
die folgenden Ausführungen auf Inter¬
views mit ehemaligen Mitgliedern der
SAJD.
15 Vgl. Aufruf zur Sacco und Vanzetti-
Kundgebung am 29. und 30. August in
Wuppertal, in: Der Syndikalist, Organ
der Freien Arbeiter Union Deutschlands
(Anarcho-Syndikalisten, Jg. (13), Nr. 34.
16 Vgl. Der Syndikalist, Jg. 13 (1931), Nr.
19.
17 Der Syndikalist, Jg. 13 (1931), Nr. 48.
18 Interview mit Karl Ibach, Wuppertal,
Oktober 1989. Ibach, jüngster Häftling
Autoreines Buchsüberdas Wuppertaler
KZ Kemna, war im Jahre 1932 Zellen¬
leiter der KPD in Unterbarmen.
19 Vgl. Linse, Ulrich: Die “Schwarzen Scha¬
ren” - eine antifaschistische Kampf¬
organisation deutscher Anarchisten, in:
Archiv für die Geschichte des Wider¬
stands und der Arbeit, Nr. 9 (1989), S.
47 -66.
SF 1/96 [65]
Freiheit Pur
Die folgende Kritik am neuen Buch Horst
Stowassers über die "Idee der Anarchie,
Geschichte und Zukunft", erschienen
im Eichborn-Verlag, versteht sich nicht
als Rezension und beansprucht auch
nicht, das 400-seitige Werk insgesamt
zu beurteilen. Als persönlich Betroffene
geht es Ilse Schwipper ausschließlich
um die Passagen über Beweg ung 2 Juni .
SF-Red.
Betr.: Kapitel 16
Hallo Horst,
Ich weiß von anderen Menschen, die
in anderen Zusammenhängen Kritik an
dir oder von dir Geschriebenen übten,
und niemals Beachtung fanden. Mein
Schreiben an dich hat'also nicht den
Anspruch beantwortet zu werden, aber
einiges habe ich zu deiner Art mit
Menschen umzugehen und zu beurteilen
zu schreiben:
In dem Buch »Freiheit Pur« gehst du
auf den Seiten 112-113 in 14Zeilenauf
die Bewegung 2.Juni ein. Du erlaubst
dir dort die Bewegung insgesamt am
Beispiel der »Schmücker-Aktion« als
‘Drama netschajewscher Prägung’ zu
beurteilen, was deinerseits suggestiv
als verabscheuungswürdig gemeint ist.
Belegt wird das Ganze von dir mit
Sätzen wie:." Schmücker hatte sich
vom Verfassungsschutz benutzen las¬
sen, war aber in erster Linie ein idea¬
listischer und unbedarft labiler Mensch,
der glaubte, seinen Genossen treu blei¬
ben und den Geheimdienst austricksen
zu könnend
Abgesehen davon, daß du hier tust als
kanntest du Ulrich Schmücker per¬
sönlich und wußtest -wie vom besten
Freund- um seine Charakterstruktur,
kolportierst du nach BILD- und Aust -
manier , ohne Kenntnis tatsächlicher
Vorgänge, ein Bild einer Bewegung in
die Öffentlichkeit, das den Hirnen bür¬
gerlicher Medien entsprungen sein
könnte.
Woher weißt du, daß es sich bei Ulrich
Schmücker um ein “armes Würstchen”
handelte, als das du ihn benennst, ist
dann der Verfassungsschutz der Sonn¬
tagsbraten? Wie du merkst ist deine
Sprache in dieser Sache wenig dienlich.
Wer den »Schmücker-Prozeß« über
17 Jahre verfolgt hat, und sich die Mühe
machte der Beweisaufnahmezu folgen,
der bekam schon einen Begriff davon,
was der Verfassungsschutz ist und mit
welchen Mitteln er revolutionäre Politik
[ßßj SF 1/96
verfolgt. Inwieweit wollte Ulrich
Schmücker 'seinen Genossen treu
bleiben' ? Den Beweis bleibst du der
Öffentlichkeit schuldig. Da hatte sich
in der Beweisaufname des Verfahrens
auch schon anderes herausgeschält.
Ebenso gilt das für deine Behauptung,
daß Ulrich Schmücker den Verfas¬
sungsschutz austricksen wollte. Womit
denn? Das mußt du wie ganz selbstver¬
ständlich auch nicht erwähnen, das sol¬
len deine Leserinnen so einfach schluk-
ken. Außerdem ist es völlig unzulässig
eine Bewegung anhand einer Kom¬
mandoaktion zu beurteilen, das ist wenig
analytisch oder seriös und einzig ober¬
flächliche Polemik. Im Gegensatz zu
anderen bewaffnet kämpfenden Grup¬
pen war die Bewegung 2. Juni dezentral
und förderalistisch organisiert, und war
keineswegs einzig illegal, fern aller
linken Strömungen angesiedelt
Entweder hast du von all dem keine
Ahnung, willst es nicht wissen, oder
übergehst es arrogant, weil die Bewe¬
gung 2. Juni und ihre Wurzeln für dich
rein gar nichts mit Anarchismus zu tun
haben soll. Leider vermittelst du weder
die damaligen politischen Zusammen¬
hänge, noch die Vielfalt des damaligen
Widerstandes, noch wo in welcher Form
Anarchie gelebt wurde.
Letzlich: womit du jeden an dieWand
stellen kannst, ist, wenn du darauf
verweist, daß in Guerillaaktionen das
Mittel fehlt, das auf Anarchie verweist.
Richtig, das Gewehr ist nicht Anarchie,
eine Entführung mit Erpressung (Be¬
freiung von Gefangenen aus den Ge¬
fängnissen) keine Methode ohne auto¬
ritäres Verhalten. Die Frage dabei ist,
mit welchen Augen sehe ich das, mit
welchem Bewußtsein beurteile ich das?
Will ich psychologisieren oder poli¬
tische Analyse einfließen lassen?! Um
es noch einmal zu sagen: die Aktion
macht nicht eine Bewegung in ihrer
Gesamtheit aus. Nach deinen Beurtei¬
lungskriterien war dann Durutti ein au¬
toritärer Befehlshaber im spanischen
Bürgerkrieg, und all seine Mitkämpfer¬
innen geheimbündlerische Desperados
mit Gewehr. Das nur als ein Beispiel.
Aber worum es dir letztlich geht wird
in Kapitel 18 deutlich, dort nämlich wo
du vom Hefeteig sprichst den Anarchi¬
stinnen anstatt der Avantgarde sein
sollen/müssen. Deine Metapher von der
Mischung: Hefe - Zucker - Mehl die
beim Gären den Anstoß geben soll, und
nach dem Backen (das vergißt du zu
erwähnen) zum Brot geworden ist. Vom
Knall zur Wende! (so entsteht für dich
Revolution) Wesentlich ausführlicher
als in dem Buch jetzt (Kapitel 18), hast
du früher in dem Text »Hefeteig oder
Avantgarde?« im Zusammenhang mit
dem »Projekt A« darüber referiert,
allerdings ohne Landauer (wie jetzt) für
die Richtigkeit zu bemühen.
Nun aber zum Schluß:
Nach jedem Kapitel gibst du dankens¬
werter Weise massenhaft Literatur¬
hinweise, nur im Kapitel 16 fehlt nun
schlichtweg alles an dem deine Leser¬
innen nachprüfen könnten was du zur
»Bewegung 2. Juni« geschrieben hast.
Deshalb hole ich es hier nach, damit du
dir einen Eindruck verschaffen kannst
was diese Bewegung war, und deine
Leserinnen es nachholen können:
~ D er Blues - (Schriften - Flugblätter -
Prozeßerklärungen) 2 Bände
- Die vier Aufrechten von der Spree -
(Schrift zur * T unix - Konferenz ’) |
- Wie alles anfing - (Individuelle Be¬
trachtungsgeschichte von Bommi Bau¬
mann)
- Der unendliche Kronzeuge - (Buch zum
Schmücker-Prozeß vom Anwalt Bernd
Häusler)
- Bewegung 2. Juni - (Ganz neu rausge¬
kommen - Die Geschichte und Betrach¬
tungen von Ralf Reinders und Ronald
Fritsch)
Sicherlich ist das nicht alles, aber ich
vertraue auf die Leserinnen, die sich
umhören, umsehen und noch mehr fin¬
den werden.*
Mein offener Brief soll keine Legiti¬
mationsschrift sein, keine Rechtferti¬
gung, aber eine Richtigstellung und ein
Hinweis darauf wie oberflächlich Be¬
urteilungen geschichtlicher Vorgänge
von dir vorgenommen werden. Dein
Umgehen damit wäre vielleicht nicht
erwähnenswert, wenn der Eichbom
Verlag nicht auf der Rückseite des
Buches von einem “umfassend ange¬
legten politischen Standardwerk”
schreiben würde. Da beim in die Hand¬
nehmen eines Buches, Klappentexte
oftmals entscheidend für den Kauf sind,
sollte auf das “umfassende” Herangehen
der jüngeren deutschen Geschichte in
Form des Guerilla-Kampfes verwiesen
werden.
In dem Sinne undAnarcha -
Feministische Grüße
Ilse Schwipper
* Uns sind wenigstens noch zwei we iiere Texte
bekannt, die auch beim SF bestellt werden
können:
Gewalt und Solidarität . Zum Schmücker-
Prozeß. Internationalismus-Verlag, Hanno¬
ver, 10.-DM
Ralf Reinders: "Die Bewegung 2 Juni -
Gewaltmonopol wurde durchbrochen'. Sr-
25, 3/87,5.-DM i
Bücherservice
Lieferbare Bücher von SF-Autorinnen
Portofrei bestellbar durch die
SF-Redaktion, PF 1159,71117 Grafenau
W olfgang Sterneck: Der Kampf um die Träume
- Musik, Gesellschaft und Veränderung (von
Rock bis Hardcore), KomistA-Verlag, 384S«,
29,80DM
Wolfgang Haug/Herby Sachs (Hg.:) Die
Ausblendung der Wirklichkeit. Texte zur
Medienkritik. Mit weiteren Beiträgen u.a. von
Jörg Auberg, Stefan Schütz, Marianne Kröger,
16.-DM. Trotzdem-Verlag, Grafenau
Herby Sachs/Dorothea Schütze: Ojaia -
Hoffnung auf ein neues Land - Guatemalas
Flüchtlinge kehren zurück. Mit einem Vorwort
von Rigoberta Menchu. Hintergrandstrexte und
Fotos, 28.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau
Werner Baisen/Karl Rössel: Hoch die inter¬
national e Solidarität. Zur Geschichte der Dritte-
Welt-Bewegung in der BRD., 360 S., 29,80 DM,
Kölner Volksblatt-Verlag.
Wolfgang Haug/Michael Wtlk: Der Malstrom.
Aspekte anarchistischer Staatskritik, 110 S.,
16.-DM. Trotzdem -Verlag, Grafenau
Autonome A.F.R.I.K.A.-Gruppe: Meöien-
randale, Rassismus und Antirassismus. Die
Macht der Medien und die Ohn-macht der Linken?,
24.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau
Friederike Kamann/Eberhard Kögel: Ruhe¬
störung, Bd. 1 & 2. Zur Entstehungsgeschichte
und zu den Konflikten eines selbstverwalteten
Jugend Zentrums. Je 28.-DM, zus. 50.-DM.
Trotzdem-Verlag.
Ulrich Klan/Dieter Neiies: Es lebt noch eine
Flamme. Rheinische Anarchosyndikalistlnnen in
der Weimarer Republik. 400 S, 34.-DM,
Trotzxi em-Verlag, Grafenau
Hartmut Rübner: Freiheit und Brot - Die Freie
Arbeiter Union Deutschlands., 317 S., 52.-,
Libertad-Verlag, Berlin/Köln
Noam Chomsky: Clintons Vision - die neue
Außen- und Wirtschaftspolitik, 120 S., 14.-DM,
Trotzdem-Verlag, Grafenau
Noam Chomsky u.a.: Die neue Weltordnung
und der Golfkrieg, 140 S., 16,-DM, Trotzdem-
Verlag, Grafenau
Noam Chomsky: Die Herren der Welt, 170 S.,
25.-DM. D. Mink-Verlag, Berlin
Noam Chomsky: Arbeit, Sprache und Freiheit,
Trafik-Verlag, Mühlheim/Ruhr, 15.-DM
Murray Bookchin: Die Neugestaltung der
Gesellschaft. Soziale Ökologie und kommu-
nalisdsche Umformung der Gesellschaft. 200 S.,
24.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau
Murray Bookchin: Hierarchie und Herrschaft,
176 S., 19,80 DM, Karin Kramer Verlag, Berlin
Janet Biehl: Sozialer Ökofeminismus und
andere Aufsätze, 120 S., 14.-DM, Trotzdem-
Verlag, Grafenau
Klaus Bittermann: Geisterfahrer der Einheit -
Kommentare zur Wiedervereinigungskrise,
Edition ID-Archiv, 162 S., 18.-DM
Jens Bj0rneboe: Stille. Ein Anti-Roman gegen
Kolonialismus und Rassismus,, 189 S., 28.-DM.
Trotzdem-Verlag, Grafenau
Jens Bj0meboe: Pulverturm, Merlin-Verlag,
Gifhorn, 290S.,32.-DM
Peter-Paul Zahl: Fritz - A German Hero. Ein
Theaterstück über den frühen (anarchischen)
Friedrich Schiller. Trotzdem-Verlag, Grafenau
(Beim SF für 18.- anstatt für 24.-DM!)
Peter-Paul Zahl: Die Erpresser. Eine Komödie.
116 S., 14,80DM, Karin Kramer Verlag, Berlin
Peter-Paul Zahl: Teufelsdroge Cannabis.
Krimi, 160S., 24 , 80 DM,Verlag Das neue Berlin
Ralf Reinders/R. Fritzsch: Bewegung 2 Juni,
Vurlag ID-Archiv, Berlin, 18.-DM
Horst Stowasser: Freiheit pur - Die Idee der
Anarchie, Geschichte und Zukunft, Eichborri-
Verlag, 400S., 44.-DM
Peter Reichelt: Du bist mein FVeund, Karl
Maus. Kinderbuch. Großformat, 46S., Hardcover,
28.-DM (Beim SF: nur 20.- DM),- Trotzdem
Verlag, Grafenau
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Trampert/Ebermann: Vom bösen Geld¬
kapital *' C. Preuschoff: Russische Avant¬
garde u. industrielle Arbeit * T. Menningen
»junge Welt« für Gentechnik -feP.Bierl: PDS-
Kommunistische Plattform: Thälmanns .
letztes Aufgebot * Earth First & Frontline,
Veganismus & Biozentrismus * J Ditfurth;
NS-Mitläufer M. O. Bruker ★ L. Baack: Antje
Vollmer und die Vertriebenen * C Danck-
worth/A. Gniech: Radikal & Repression ★ W. Kühr: Grüne =
Atomenergie ~k D. Asselhoven: Hochschulkampf
Und: Silvio Gesell i- Gegen das völkische Prinzip * Spiritueller
Ökofeminismus * Nordirland II * Ausraster * Bücher & Filme ... usw.
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stattbericht Pädagogik, Bd. 1 & 2. Texlauswahl
zur libertären Pädagogik und Schulkritik, je 170S.,
je 18.-DM. Trotzdem-Verlag, Grafenau
Ulrich Klemm: Prinzip Freiheit, Oppo-Verlag,
Berlin, 16,80 DM
Ulrich Klemm: Bildung ohne Herrschaft, 184
S., 32.-DM, Dipa-Verlag, Frankfurt
Ulrich Klemm: Anarchismus und Pädagogik,
252 S.» 36.-DM, Dipa-Verlag, Frankfurt
Gabriel Kuhn: Leben unter dem Totenkopf
(Piratentum), 64 S., 13,80 DM, Monte Venta
Verlag, Wien
Heinz Hug: Kropotkln-Blbliographle, 260 S.,
35.-DM, Trotzdem-Verlag, Grafenau
Bell Hooks: Black Looks, 256 S., 36.-DM,
Orlanda Verlag, Berlin
Gerhard Kern/Gerald Grüneklee (Hg.):
Lernen ln Freiheit. Anti-Pädagogische Thesen,
180S, 20.-DM, AKAZ/Anares Nord
Gerhard Kern/Lee Traynor: Die esoterische
Verführung, IBDK-Verlag, 381S., 36.-DM
Topitas (Hg.) (u ji. mit Herby Sachs): Ya basta!
-Der Aufstand der Zapatistas,364S.,28.-DM,
Verlag libertäre Association, Hamburg
Autonome LUPUS-Gruppe: Lichter-ketten
und andere Irrlichter - Texte gegen finstere
ico s 9.4.-DM. Edition ID-Archiv, Berlrn
Arno Maierbrugger: Fesseln b « chcn nlc | 1 *
von selbst. Anarchistenpresse 1890-1933., 214
Geronimo: Feuer und Flamme, 24ÖS,,25.-DM,
Edition ID-Archiv, Berlin
Klaus Schönberger/Claus Koestler: Der Freie
Westen, der vernünftige Krieg, seine linken
Liebhaber und ihr okkzidentaler Rassismus oder
wie hierzulande die Herrschaft der "neuen" Welt¬
ordnung als "Krieg in den Köpfen" begonnen hat
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